Viva Espana
1. KAPITEL
Davina fuhr sich mit der schmalen Hand durch das lange silberblonde Haar. In ihren blauen Augen leuchtete es liebevoll auf, als sie Jamie, ihren dreijährigen Sohn, betrachtete. Sie war vierundzwanzig, wirkte aber mit ihrer schlanken und zierlichen Gestalt viel jünger, so dass man ihr kaum zutraute, schon ein Kind zu haben. Obwohl sie immer noch ihren Ehering trug, glaubte ihr so manch einer nicht, dass sie verheiratet war.
Während sie ein Papiertaschentuch in ihrer Umhängetasche suchte, entdeckte sie zufällig den Brief, den sie vor zwei Wochen erhalten hatte. Er war kühl und sachlich geschrieben. Sie hatte auch nicht erwartet, dass Jamies Vater noch irgendetwas für sie empfand. Ihre gemeinsame Zeit war längst vorbei und vergessen.
Aber weshalb saß sie dann jetzt im Flugzeug nach Sevilla, um mit ihrem Sohn zu seinem Vater zu fliegen, den er nicht kannte?
Man sah Jamie, der in ihren Armen eingeschlafen war, die soeben überstandene Krankheit noch an. Er hatte eine langwierige Darmentzündung gehabt. Doch glücklicherweise war jetzt alles überstanden, obwohl sein Immunsystem noch geschwächt war. In dem warmen Spanien, wo er geboren war, würde er sich erholen könne n, seine Haut wäre schon bald ge bräunt und sein gelocktes Haar, das sie an Ruy, seinen Vater, erinnerte, würde im Sonnenschein blauschwarz glänzen. Sie strich es ihm aus der Stirn.
Glücklicherweise konnte Davina zu Hause arbeiten. Doch mit Kinderbuch-und Kartenillustrationen verdiente sie nicht so viel, dass es für ein Leben im Luxus reichte.
Auch hätte sie es sich nie erlauben können, mit Jamie in den Süden zu fliegen, wie der Arzt es empfohlen hatte.
Als er alt genug gewesen war, hatte Davina ihrem Sohn erklärt, sein Daddy lebe in einem anderen Land. Er war etwas neugierig geworden, war jedoch mit ihren kurzen Erklärungen zufrieden gewesen. Im Kindergarten hatte er andere Kinder kennen gelernt, deren Mütter allein erziehend waren, deshalb war es für ihn nichts Außergewöhnliches.
Natürlich wäre es mir lieber, mein Kind könnte in einem intakten Elternhaus aufwachsen, gestand sie sich ein.
Ich darf nicht sentimental werden, mahnte sie sich sogleich und dachte wieder über den Brief nach. Warum wollte Ruy seinen Sohn unbedingt sehen?
Nach der Trennung war sie überzeugt gewesen, er würde die kurze Ehe mit ihr rasch vergessen. Auf seinen Wunsch hatten sie sich katholisch trauen lassen. Aber er kam aus einer angesehenen, einflussreichen Familie, und man hätte sicher Mittel und Wege finden können, die Ehe annullieren zu lassen. Seine Mutter war von Anfang an gegen die Heirat gewesen. Die Condesa de Silvadores hatte Davina verachtet und ihr das Leben schwer gemacht.
Nachdem der Flieger in Sevilla gelandet war, kümmerte die Stewardess sich um Jamie. „Was für ein schönes Kind", sagte sie, während Davina ihre Sachen zusammenpackte. „Er hat wenig Ähnlichkeit mit Ihnen, oder?"
„Stimmt, er kommt ganz nach seinem Vater", erwiderte Davina kurz angebunden.
Die Stewardess konnte nicht wissen, wie viel Überwindung Davina diese Bemerkung kostete. Nur ungern gab sie zu, wie sehr Jamie seinem Vater ähnelte, einem Vater, der ihn nicht hatte haben wollen, der ihn nie gesehen und ihm weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten etwas geschenkt hatte. Sogar den Brief hatte er nicht selbst geschrieben.
Stattdessen hatte seine Mutter Davina aufgefordert, in den Palacio de los Naranjos, den Familiensitz der Silvadores, zurückzukommen. Der Palast lag inmitten von Orangenplantagen, deren angenehmer, süßlicher Duft schon frühmorgens die Luft erfüllte.
Bei der Erinnerung daran erbebte Davina. Die Stewardess glaubte offenbar, ihr sei kalt, und führte sie rasch zum Flughafenterminal.
Es war schon dunkel. Davina ging mit Jamie auf dem Arm durch die Passkontrolle hinaus in die so weich und sanft wirkende Nacht. Spanien! Schon allein der ganz spezielle Duft weckte unendlich viele Erinnerungen. Während der Flitterwo chen war sie Hand in Hand mit Ruy durch die Orangenplantagen gewandert. Bei Vollmond hatten sie sich unter den Bäumen im Park zum ersten Mal geliebt. Sie war damals unvorstellbar glücklich gewesen und hatte geglaubt, Ruy liebe sie. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, Ruy hätte sie nur deshalb verführt und geheiratet, um die Frau, die er wirklich liebte, zu bestrafen oder ihr etwas zu beweisen.
Davina war überzeugt gewesen, so etwas wie das Paradies gefunden zu haben. Doch in jedem Paradies gab es
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