0806 - Die Hexe von Köln
einem Ruck erhob sich Stygia vom Thron des Fürsten der Finsternis. Sie hatte lange genug darum gekämpft, bis sie ihn endlich hatte in Besitz nehmen dürfen. Sie würde ihn sich nicht so einfach wieder wegnehmen lassen.
Von niemandem!
Neider gab es genug, die sich lieber heute als morgen an ihrer Stelle darauf niedergelassen hätten. Die Ränkespiele hörten niemals auf. Bisher war es ihr gelungen, ihnen allen zu trotzen, doch wurde sie den Gedanken nicht los, einen Fehler gemacht zu haben.
Einen Fehler, an dem nur dieser Narr von Rico Calderone die Schuld trug.
Dass er nun tot war, änderte daran nichts. Er hatte kein besseres Schicksal verdient, dieser Emporkömmling, dem man seinen Eintritt in die Sieben Kreise der Hölle niemals hätte gestatten dürfen. Zum Glück hatte er sein erbärmliches Leben ausgehaucht, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte.
Stygia sprang auf, entfaltete ihre Flügel und flatterte damit, als wollte sie sich in die Luft erheben. Sie war so aufgebracht, dass sie schon nicht mehr merkte, was sie tat. Sie durfte sich nicht gehen lassen, wollte sie sich nicht irgendwann selbst zum Gespött machen. Es gab genug Neider, die nur auf einen solchen Moment warteten.
Ein paar niedere Dämonen, die sich im Thronsaal aufhielten und dem knöchernen Sitz ihrer Macht zu nahe gekommen waren, sprangen auseinander und stoben in alle Richtungen davon. Sie duckten sich in die hintersten Ecken und verkrochen sich in den trügerischen Schutz einiger dunkler Nischen.
Instinktiv spürten sie, dass ihre Herrin nicht bester Laune war. In solchen Augenblicken kam man ihr besser nicht zu nahe. Manch einer ihrer Sklaven hatte diese Nachlässigkeit bereits mit seinem dämonischen Leben bezahlt.
Doch heute stand ihr nicht der Sinn danach, sich durch das Blut des Gezüchts ein wenig Ablenkung zu verschaffen. Stygia ignorierte die ihr hörigen Kriecher. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Die Lügen, die sie und Calderone dem Konzil der ranghöchsten Dämonen aufgetischt hatten, machten ihr mehr zu schaffen, als sie sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Es gelang ihr nicht, die unterschwellige Angst vor der Wahrheit abzustreifen.
Lebte LUZIFER, oder lebte er nicht? Und zwar der hiesige LUZIFER, nicht derjenige der Spiegelwelt. Was, wenn er sich plötzlich meldete?
Die Schwarze Familie würde Stygia die Lüge nicht verzeihen, Fürstin der Finsternis hin oder her. Diesen Narren Calderone konnte man ja nicht mehr zur Verantwortung ziehen, daher würde man sich an sie allein halten.
Wie würde der KAISER selbst auf die Verbreitung seines angeblichen Ablebens reagieren, sollte er jemals wieder auftauchen?
Doch vielleicht würde das gar nicht geschehen, und sie machte sich zu viele Gedanken. Womöglich weilte er wirklich nicht mehr unter den Lebenden.
Stygia wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, Gewissheit zu erlangen, damit ihre schwarze Seele endlich Ruhe fand und sie den Knochenthron nicht mehr als Belastung empfand.
Sie faltete ihre Flügel wieder zusammen und ließ sich beinahe widerwillig auf dem Thron nieder, rutschte unentschlossen hin und her, ohne eine bequeme Position zu finden. Selten hatte sie sich so unwohl darauf gefühlt.
So ging es nicht weiter!
Die Ungewissheit konnte noch Jahre dauern. Oder auch Äonen. Wenn sie sich weiterhin gedanklich mit diesem Problem aufrieb, ließ ihre Wachsamkeit nach und machte sie anfällig für Angriffe ihrer Konkurrenten.
Stygia schüttelte den Gedanken ab, um sich nicht verrückt zu machen. Eine Idee begann in ihr zu reifen. Wo ließ sich leichter Zerstreuung finden als unter den Sterblichen?
Wenn Stygia sich für eine kurze Weile unter sie mischte, konnte ihr das vielleicht helfen, ihre Selbstzweifel zu besiegen, um sämtlichen Erzdämonen wieder ohne Schuldgefühle gegenübertreten zu können.
Kurz entschlossen erschuf die Fürstin der Finsternis ein Weltentor und trat hindurch.
Es brachte sie geradewegs in die Welt der Menschen.
Zur Erde.
***
Eine Zufallsbekanntschaft
Nicole Duval schlenderte die Hohe Straße entlang und genoss das Treiben um sich herum. In den letzten Wochen war sie in keiner großen Stadt gewesen, deshalb hatte sie sich vorgenommen, die Gelegenheit zu einer ausgedehnten Shopping-Tour zu nutzen. Denn das, was in kleinen Orten aller Herren Länder geboten wurde, war absolut nicht nach ihrem extravaganten Geschmack.
Sie war schon seit Stunden unterwegs, und inzwischen brach der Abend an. Die
Weitere Kostenlose Bücher