0815 - Die Schlangenschwester
sie das Geschehen der letzten Nacht bereits wieder mit einiger Distanz. Sie musste sich eingestehen, dass ihre eigenen Schmerzen in gewissem Sinn gerechtfertigt waren. Sie sah es - wie jeden Monat - als eine gerechte Strafe für die Schmerzen an, die sie anderen zufügte.
Auge und Auge - Zahn um Zahn.
Der Unterschied war, dass ihre Opfer starben, während ihr eigenes Martyrium niemals ein Ende nehmen würde. Sie war unsterblich…
Aber verdammt noch mal, sie hatte es nicht so gewollt! Schon gar nicht um diesen Preis, diesen furchtbaren Preis!
Sandrine rief sich die Geschehnisse der letzten Stunden in Erinnerung. An Jorge konnte sie sich erinnern. Er war ihr erstes Opfer in dieser Nacht gewesen. Doch wohl kaum ihr letztes.
An die anderen erinnerte sie sich nicht. So sehr sie sich das Hirn zermartert, da war nichts! Das Letzte, das sich in Sandrines Gehirn eingebrannt hatte, war das Geräusch, als ihre Zähne Jorges Wirbelsäule zermalmten.
Merde!
Ausgerechnet - diese Erinnerung würde ihr die nächsten dreißig Tage das Leben zur Hölle machen. Sie spürte bereits die Dunkelheit der Depression nahen. Außerdem würde sie - wie immer - in den nächsten Tagen die Zeitungen durchforsten und ihre diversen Quellen in der Halb- und Unterwelt von Paris anzapfen, um herauszufinden, wie viele Opfer sie dieses Mal gerissen hatte. Letzten Monat waren es fünf gewesen. Im Monat zuvor - welche Gnade! -nur zwei…
Ihren traurigen Rekord hatte sie vor zehn Vollmonden aufgestellt: zwölf Menschen.
Zwölf Menschenleben in einer einzigen Nacht. Fast zwei in jeder Stunde.
Damals war Sandrines Verzweiflung zum ersten Mal so stark geworden, dass sie sich eine Kugel in den Schädel gejagt hatte.
Das Ergebnis war entsetzlich gewesen.
Schmerzen, die die der Rückverwandlung noch übertroffen hatten, und verdammter Ekel, als sie die Sauerei hinterher aufwischen musste…
Obwohl die Kugel ganz zweifellos ihr Gehirn zerstört hatte und jedes menschliche Wesen für immer über den Jordan gepustet hätte, hatte Sandrine überlebt. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben.
Weil sie eben kein Mensch mehr war.
Schon lange nicht mehr.
Merde!
***
Nach dem jetzigen Stand ihrer Ermittlungen waren es dieses Mal fünf gewesen.
Guter Durchschnitt , dachte sie, während in ihr Sarkasmus und-Verzweiflung um den ersten Platz kämpften. Keine der beiden Empfindungen würde gewinnen, denn wie immer würde Ekel alle anderen Emotionen überflügeln. Ekel vor sich selbst.
Fünf Menschen, die ihrer dämonischen Verwandlung zum Opfer gefallen waren.
Jorge - nachnamensloser Weltenbummler-Penner.
Martin Meier - ein deutscher In-Architekt, der ausgesiedelten Freunden eine Villa am Stadtrand von Paris hatte bauen wollen.
Sandy - die Hure, bei der Meier die Nacht verbracht hatte… hatte verbringen wollen. Den Gipfel seiner Lust hatte er nicht mehr erreicht.
Der Zuhälter der Hure, dessen Name sie nicht hatte recherchieren können und der seinem Pferdchen zur Hilfe eilen wollte, weil der Kunde den Geräuschen nach offensichtlich ein Wahnsinniger war.
Und ein vierschrötiger Kerl namens Didier, der seinen Nachnamen schon lange vergessen hatte und seine Brötchen von eben diesem Zuhälter bezog, um ihm allzu aufdringliche Typen vom Hals zu halten. Gegen Sandrine in ihrer Dämonengestalt hatte der Schläger trotz seiner beeindruckenden Muskeln nicht den Hauch einer Chance gehabt.
»Drei der Toten waren Gesocks«, sagte Carmen, die mit Sandrine das Elend ihres Daseins teilte, seit sie zusammen jene schicksalhafte Nacht erlebt hatten. »Und der Deutsche war doch auch nicht besser, wenn er zu einer Hure geht.«
»Du weißt genau, dass mir das nicht hilft, Carmen!«, stieß Sandrine hervor und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. Dann stand sie ruckartig auf und trat wieder und wieder gegen die Matratze, die in der Ecke des Wohnraums lag.
»Sandrine«, versuchte Carmen die letzte Freundin zu beruhigen, die ihr noch geblieben war, »du warst es nicht, die diese Menschen heute Nacht getötet hat! Es war…«
»Es ist mir egal, welche Haarspaltereien du vorzubringen hast!«, unterbrach Sandrine.
»Haarspaltereien?« Zornig schlug die braunhaarige Carmen die Faust auf die Tischplatte.
»Hör dich mal selbst reden! Carmen, wach auf! Wir sind keine Menschen mehr!«
»So? Und warum verhalten wir uns dann jeden Tag so?«
»Und warum verhalten wir uns dann nicht jede Nacht so?«
»Das will ich dir sagen«, begehrte Carmen auf, schob ihren Stuhl
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