09-Die Pfade des Schicksals
»Auserwählte. Hier gibt es vieles, das wir nicht verstehen. Wir sind Ramen, Diener der großen Ranyhyn. Seit Jahrtausenden sind wir damit zufrieden. Wir haben nichts mit dem Schicksal von Welten zu schaffen. Aber es gibt etwas, worüber ich sprechen muss.«
Linden starrte ihn an - das Gesicht starr, wie ausdruckslos, vielleicht sogar so unversöhnlich wie die Haruchai. Dabei war Mahrtiir ihr Freund. Ihretwegen hatte er sein Augenlicht - und damit gewiss auch einen Teil seiner Selbstachtung - verloren. Sie überwand sich und sagte: »Ich höre.«
Der Mähnenhüter wählte seine Worte mit Bedacht: »Wir haben die Worte der anderen gehört, und so will ich nicht leugnen, dass der Schaden durch die Wiedererweckung des ersten Ring-Thans gewaltig und schrecklich ist. Aber die Tat ist nun einmal getan. Niemand kann sie mehr rückgängig machen. Und seine Bedürftigkeit ist unmittelbar und gegenwärtig. Ihn jetzt zu heilen, kann nicht ändern, was geschehen ist, aber es könnte viel dazu beitragen, künftigen Schaden abzuwenden.«
Linden seufzte innerlich. Sie hatte dieses Risiko bereits zurückgewiesen. Um ihrer Freunde willen antwortete sie: »Genau erklären kann ich das alles nicht. Wer nie besessen war, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, an Herz und Seele manipuliert zu werden. Allein das wäre schon schlimm genug. Aber diese Sache hier ist schlimmer. Ein zerbrochener Verstand lässt sich nicht so leicht heilen wie eine Schnittwunde, ein Beinbruch oder eine Infektion. Ein einziger Fehler würde genügen, um …«
An der Grenze des Wanderns hatte sie versucht, von Anele Besitz zu ergreifen, um seine Wahnvorstellungen oder seine Verwundbarkeit zu mildern. Nachträglich war sie ihm dankbar, dass er sie abgewiesen hatte. Wahrscheinlich hätten ihre Bemühungen ihm auf irgendeine heimtückische Weise geschadet. Linden war weder klug noch selbstlos genug, um ihm ihre Wünsche zu vermitteln, ohne seine Integrität zu beschädigen.
Sie hatte Jahre gebraucht, um diese Lektion zu lernen.
»Würde ich mich jetzt einmischen, würde ich ihn zum zweiten Mal wiedererwecken. Ich würde ihm die Fähigkeit rauben, eigene Entscheidungen zu treffen.« Sich selbst zu retten oder zu verdammen. »Nach allem, was ich getan habe, hat er zumindest ein Minimum an Respekt verdient.«
»Linden«, murmelte Liand besorgt und kummervoll, »ist es wirklich unrecht, dass du einen Mann, den du einmal geliebt hast, zu neuem Leben erweckt hast? Ich begreife bis zu einem gewissen Grad, welche Gefahr …«
»Das tust du nicht«, unterbrach ihn Galt. »Auch wenn Linden Avery nicht die Schlange des Weltendes geweckt hätte, wäre ihre Tat doch eine so schlimme Entweihung wie jeder Sturz - und ebenso fatal. In ihrem eigenen Namen und aus keinem anderen Grund als um des eigenen Herzens willen, hat sie Gesetze verletzt, von denen der Fortbestand des Lebens abhängt. Das Ergebnis ist ein Zerfall von Notwendigkeit, von Tat und Konsequenz.« Seine Stimme klang mitleidslos. Durch ihn sprachen die Gedemütigten ihr Urteil. »Daraus kann nur Böses entstehen. Eine Frau, die solche Verbrechen begangen hat, verübt bestimmt auch andere. Ihr darf nicht gestattet werden, weitere Gräueltaten zu begehen.«
Linden hatte verstanden. Die Gedemütigten würden nicht zulassen, dass sie jetzt und hier versuchte, Covenant beizustehen.
Der Mähnenhüter und seine Seilträger strafften sich; Mahrtiir hielt plötzlich seine Garotte in Händen. Aber da sich weder die Haruchai noch die Ranyhyn bewegten, hielten sich auch die Ramen zurück.
»Trotzdem«, bemerkte Stave ausdruckslos, »werdet ihr keine Hand gegen sie erheben. Der Zweifler hat euch Duldsamkeit befohlen. Die Ranyhyn haben ihre Absicht bekräftigt, sie gegen euch zu verteidigen. Und auch ich würde nicht untätig zusehen - kein Freund der Auserwählten wird untätig zusehen. Vielleicht würden sogar die Riesinnen, die sie zur Riesenfreundin ernannt haben, ihr ihre Treue beweisen. Wollt ihr der Auserwählten euren Willen aufzwingen, müsst ihr es mit allen aufnehmen, die sich hier in ihrem Namen versammelt haben. Und ihr müsst einen ausdrücklichen Befehl von Ur-Lord Thomas Covenant missachten.«
Linden ignorierte die Vorwürfe der Gedemütigten ebenso wie Staves Verteidigungsrede. Stattdessen wandte sie sich an den Egger - etwas anderes blieb ihr nicht mehr übrig. Alles andere hatte sie schon falsch gemacht. Lord Fouls Befreiung war unvermeidlich. Trotzdem blieb ihr noch eine Aufgabe. Wenn der Egger
Weitere Kostenlose Bücher