091 - Die Bräute des Henkers
gefalle. Nach seiner Meinung gehörte alles unter ein Dach, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man das Castillo Basajaun eher heute als morgen aufgegeben. Wenigstens hatte Dorian Hunter ihm den vertrackten Ys-Spiegel vom Hals geschafft, meinte Sullivan, und mit Miß Pickford konnte man wieder vernünftig reden.
Coco verzichtete darauf, ihm zu erklären, welche Vorteile ein Stützpunkt in einer abgelegenen Gegend wie Andorra bot. Im Castillo Basajaun, im Seitental des Valira del Norte konnte man Dinge tun, die in der Londoner Jugendstilvilla in der Baring Road nicht unbeachtet geblieben wären.
Coco blieb nun nichts anderes mehr übrig, als sich in Phillips Zimmer im dritten Obergeschoß des Haupttrakts zu begeben. Auf der Treppe begegnete sie Burkhard Kramer, dem Ethnologen aus Frankfurt, einem Mitglied der Magischen Bruderschaft. Er grüßte sie und lächelte ihr schüchtern zu. Kramer rauchte und trank nicht und lebte auch sonst wie im Zölibat. In seinem Fach war er eine Koryphäe, aber für einen richtigen Mann kam er Coco schon zu brav und solide vor; da war ihr Dorian Hunter doch lieber, wenn er auch gelegentlich über die Stränge schlug.
Coco klopfte an Phillips Zimmertür. Phillip antwortete nicht, und sie öffnete.
Phillip saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett, in Meditation versunken. Er hatte langes, goldblondes Haar, eine grazile Gestalt und war sehr groß.
Es schien, als sei er in eine andere Welt versunken.
Das elektrische Licht brannte.
Coco schloß leise die Tür.
,.Phillip", raunte sie.
Ein Lächeln glitt über die Züge des Hermaphroditen. Er winkte Coco zu, ohne die Augen zu öffnen.
„Ich bin es - Coco."
Er nickte nur.
Phillip war ein unbegreifliches Wesen. Er verfügte über übernatürliche Fähigkeiten. Sicher wußte er längst, wer sich bei ihm befand und noch viel mehr.
„Der Sabbat bringt das Unheil", sagte er mit seiner hohen Stimme. „Das Böse kommt über die Welt. Bei ihm ist die Kraft, die stärkste aller Kräfte."
Coco stutzte. Der letzte Satz entstammte der tabula smaragdina, der sagenhaften Überlieferung des großen Hermes Trismegistos. Brachte Phillip da etwas durcheinander? Oder bedeutete es tatsächlich, daß Mächte des Bösen jene sagenhafte Kraft des Hermes Trismegistos besaßen oder besitzen würden? Wenn das eintrat, dann waren die Folgen nicht abzusehen. Die Dämonen, ohnehin schon schlimm genug, würden Furchtbares anrichten.
„Was ist mit Dorian Hunter?" fragte Coco. „Wo finde ich ihn?"
Aber Phillip antwortete nicht. Der Hermaphrodit bebte am ganzen Körper.
„Das Böse hat lange geschlafen", sagte er. „Entsetzliche Greuel werden sich ereignen. Grüne Pflanzen wandeln in London, und Hekate stürzt ins Nichts."
Coco versuchte, Phillip zu beruhigen. Er atmete stoßweise. Seine Augen waren fest geschlossen. Es schien, als würde er in sich hinein oder in die Zukunft sehen. Sein Gesicht drückte Entsetzen aus.
Es dauerte eine Weile, bis Coco ihn wieder nach Dorian Hunter fragen konnte.
„Das salzige Wasser umspült die Insel des Paradieses", sagte der Hermaphrodit. „Und der scharlachrote Henker wartet. Dorian Hunter ist einer von dreien."
„Wo finde ich ihn? Ist er auf dieser Insel?"
„Zwei der drei sind auf der Insel. Das blaue Kind und Dorian wirst du dort finden."
Coco schüttelte den Kopf. Manchmal war es ein Kreuz mit den geheimnisvollen Andeutungen des Hermaphroditen.
„Wo ist diese Insel?"
„Stürme toben an der Küste der Bretonen. Der Böse hat lange geschlafen und wartet in der Finsternis. Wehe, wehe, dreimal wehe! Morbihan - Carnac! Wenn die mächtigen Menhire stürzen, geht eine Welt unter."
Phillip war so erregt, daß er wieder heftig zitterte.
„Die Insel des Paradieses. Geh allein dorthin! Vielleicht… Aber die Kräfte des Bösen sind übermächtig."
Coco schauderte, als hätte sie ein kalter Hauch gestreift. Sie strich Phillip das verklebte Haar aus der Stirn. Er stammelte nur noch unzusammenhängende Worte, mit denen sie nichts mehr anfangen konnte. Aber sie wußte genug. Die Küste der Bretonen war die Bretagne; und sie kannte den Ort Carnac und den Golf von Morbihan.
Dorian und Tirso waren also dort auf einer Insel. Coco mußte hin. Aber zuvor brauchte sie Informationen über die Insel des Paradieses. Dieser Name war ihr kein Begriff.
Coco hielt Phillip in den Armen - wie eine Schwester den Bruder. Sie merkte, daß er müde war, und deckte ihn zu. Phillip lächelte sie dankbar an und schloß
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