091 - Die Bräute des Henkers
dunkel und stürmisch. Die Wellen schlugen gegen die Kaimauer. Ein schnittiges Motorboot lag an der Mole. Es war ein Leihboot, das während der Saison an zahlungskräftige Touristen vermietet wurde, mit oder ohne Steuermann.
Jetzt im Oktober standen die Reihenbungalows und die paar Hotels von Carnac-Plage fast leer. Nur wenige Leute lebten hier das ganze Jahr über.
Dorian Hunter war am vergangenen Tag bei Carnac mit Magnus Gunnarsson zusammengetroffen. Sie hatten sich in dem kleinen Ort etwas umgehört und bald erfahren, wo sie ein Motorboot für eine geheime Fahrt herbekommen konnten. Im Hinterzimmer eines Fischerlokals sprachen sie mit Alphonse Clärie, einem cleveren, ziemlich schnodderigen jungen Mann, dessen Onkel in der Saison Motorboote vermietet. Er hatte nichts dagegen, ein paar Leute gegen gute Bezahlung auf die Paradiesinsel zu bringen und später wieder abzuholen. Nun aber, nachdem er Tirso gesehen hatte, den blauen, einäugigen Zyklopenjungen, wurden ihm die Fremden doch unheimlich.
Dorian und der junge Mann kletterten in das Boot. In der Nacht hatten Dorian Hunter, Magnus Gunnarsson, Abi Flindt und Tirso in einem Fünf-Mann-Zelt geschlafen. Jetzt im Oktober war das Zelten kein Vergnügen mehr; aber die Männer waren harte Burschen, und Tirso fand alles riesig romantisch.
Das Gepäck wurde herübergereicht und verstaut. Dann kamen Magnus Gunnarsson, Flindt und Tirso an Bord. Alphonse Clarie machte das Boot startklar, sprang noch einmal an Land und löste die Leine. Schließlich sprang er ins Boot und startete den 135-PS-Dieselmotor. Der Motor tuckerte ein paarmal Clarie ließ ihn anderthalb Minuten warmlaufen und legte dann ab. Konzentriert sah er auf den Kreiselkompaß.
„Wieviel PS hat der Motor?" wollte Tirso wissen.
Der Zyklopenjunge hatte in den letzten Wochen auf Castillo Basajaun viel gelernt. Wie die meisten Jungen faszinierte ihn alles Technische.
Clarie sagte es ihm. Er machte keinen glücklichen Eindruck. Am Vorabend hatte er große Sprüche geklopft, jetzt zeigte er sich eher bescheiden. Tirso plapperte und fragte und fragte.
Magnus Gunnarsson und Abi Flindt hatten sich in die Kabine zurückgezogen. Dorian stand hinten, den Jackenkragen hochgestellt. Er sah auf das phosphoreszierende Kielwasser und die Lichter der Küste.
In etwa einer Stunde mußten sie. die Paradiesinsel erreicht haben, das Reich des Grafen CharlesHenri de Calmont.
Dorian wußte von Magnus Gunnarsson, daß auf der Paradiesinsel etwas vorgehen sollte. Gunnarsson hatte ihm von jenem Luguri erzählt, den die entschwindende Ys-Dahut in letzter Verzweiflung angerufen hatte, jene dämonische Tochter des Königs Gralon oder Hermon der kein anderer war als Hermes Trismegistos. Vor fünftausend Jahren hatte sie durch ihr Wirken den Untergang der Stadt Ys verschuldet. Und fast wäre es ihr gelungen, sich in der Gegenwart zu manifestieren. Nun trieb sie wieder mit ihrem Sarkophag und einem neuen Wächter durch Zeit und Raum.
Die Quelle seines Wissens hatte Gunnarsson nicht preisgegeben. Doch er hatte Dorian gesagt, daß der fürchterliche Luguri von den Dämonen der Schwarzen Familie wiedererweckt werden sollte - und zwar auf der Paradiesinsel.
Dorian Hunter und Magnus Gunnarsson wollten Luguris Auferstehung verhindern. Um das zu erreichen, war Dorian auch bereit, den Zyklopenjungen Tirso und seine übernatürlichen Kräfte einzusetzen.
Viel ging dem Dämonenkiller durch den Kopf, während er über das dunkle Wasser blickte. Der Sturm zerzauste sein Haar, und Regenschauer peitschten ihm ins Gesicht; doch er bemerkte es kaum.
Dorian dachte an den Ys-Spiegel, den er eingesteckt hatte. Seit Tagen schon juckte ihn sein Gesicht, so als würde das unsichtbare Stigma des Dämons Srasham durch irgendwelche Kräfte beeinflußt. Wie lange lag sein Aufenthalt in Istanbul schon zurück! Inzwischen hatte Coco Zamis einen Sohn von ihm zur Welt gebracht, der an einem geheimen Ort aufwuchs und nun schon zwei Jahre alt geworden war. Dorian hatte ihn nur einmal nach der Geburt gesehen. Olivaro hatte ein Gastspiel als Fürst der Finsternis gegeben und war gestürzt worden. Hekate, die Dorian Hunter in seinen früheren Leben als Georg Rudolf Speyer und Michele da Mosto im 16. Jahrhundert schon kennengelernt hatte, war nun die Herrin der Finsternis. Der geheimnisvolle Hermes Trismegistos, der Begründer der Weißen Magie, war aufgetreten. Und Dorian sah eine Möglichkeit, den Stein der Weisen und damit die absolute Macht zu erringen. Wenn
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