0911 - Nachtgestalten
Kühlschranktür zuwarf, war so laut, dass Nicolas erschrocken zusammenfuhr und verstummte. Sofort machte Luc zwei Schritte nach vorn und stand schließlich direkt vor ihm. »Was du bist oder als was du dich betrachtest, Nicolas, interessiert mich nicht. Sei doch ehrlich: Du willst gar nicht, dass ich hier bleibe. Keiner von euch will das. Ihr habt doch immer noch den artigen Zehnjährigen im Kopf, wenn ihr an mich denkt. Na, dann haltet euch fest: Den gibt's nicht mehr. Ich bin ich, so bin ich heute. Und das könnt ihr einfach nicht einsehen. Also sage mir, Herr Vater - warum sollte ich bei euch bleiben? Warum? Damit ihr weiterhin missbilligen könnt, was aus eurem Hosenscheißer von damals geworden ist?«
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, griff sich Luc den Rucksack und rannte aus der Küche. An der Wohnungstür verharrte er kurz, als wolle er abwarten, ob ihm jemand hinterher kam, ihn am Gehen zu hindern versuchte. Luc kochte innerlich vor Wut und hätte jetzt sogar seinen Vater geschlagen, wenn dieser ihn provozierte.
Doch niemand kam. Als Luc Curdin an diesem Abend die Wohnungstür öffnete und hinaus ins Treppenhaus kam, hörte er seine Mutter seufzen. Es war das Letzte, das er jemals wieder von ihr hören sollte.
***
Der Junge atmete einmal tief durch, dann machte er sich auf den Weg. Es gab noch eine Sache, die er erledigen musste. Und diesmal würde er alles auf eine Karte setzen müssen. Im Nu war er die Treppe hinab, stand vor Maries Tür und betätigte die Klingel.
Die Studentin öffnete zögerlich, doch als sie sah, wer da um diese Zeit noch bei ihr vorstellig wurde, schien sie sich wieder zu entspannen. »Brauchst du Eier?«, fragte sie lächelnd.
»Nein«, sagte Luc und spürte, wie ihm das Herz mit einem Mal bis zum Hals schlug. »Sondern dich.«
Unzählige Szenen schossen ihm binnen einer einzigen Sekunde durch den Kopf. All die Gelegenheiten, bei denen sie sich hier auf der Treppe getroffen hatten. All die Abende, an denen Luc am Wohnzimmerfenster gestanden und hinunter auf das Licht in ihrer Wohnung geblickt hatte, wartend und hoffend auf den einen, den richtigen Moment. An dem er ihr endlich sagen konnte, wie er für sie empfand.
Marie sah ihn an, zunächst verständnislos und dann…
»Ich weiß, das ist nicht der ideale Zeitpunkt«, setzte Luc nach. »Aber ich verschwinde von hier, raus aus Lyon. Ich fahre nach Paris, heute noch, und lebe dort mein eigenes Leben. Und ich… ich möchte, dass du mitkommst. Das möchte ich schon sehr lange.«
Unzählige Male hatte sich Luc dieses Gespräch im Geiste ausgemalt und mit den unterschiedlichsten Reaktionen gerechnet. Damit, dass sie ihn auslachte, ihn für kindisch hielt und ablehnte. Damit, dass sie ihn seinen Eltern meldete, ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Damit, dass sie Ja sagte.
Aber in keiner seiner Gedankenspiele war Angst vorgekommen. Marie Dupont lachte nicht über ihn. Sie fürchtete ihn!
Luc sah es in ihrem Blick, in der Art, wie sie sich an der geöffneten Tür festhielt. »L.«, sagte sie leise, und es schien, als habe sie etwas begriffen, das sie schon lange beschäftigte. »Du bist L.«
»Was?«, fragte Luc verständnislos. »Ich habe keine Ahnung, wovon…«
»Du warst das«, unterbrach sie ihn. »Du hast mir all die Sachen geschickt, du hast den Zettel geschrieben. Hast du etwa auch…?« Marie war immer lauter geworden, jetzt aber zog sie die Luft ein und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Hast du etwa diesen Mord begangen? Im Bleistift wurde Geld gestohlen, hieß es eben im Radio, und ein Wachmann getötet - und wenn das Päckchen von dir stammt, wenn das Geld von dort ist…«
Luc schüttelte verwirrt den Kopf. Wovon redete sie nur? Toter Wachmann? Sie waren doch verschwunden, bevor man sie entdecken konnte, und hatten keinen Cent gestohlen. Hatte es noch einen zweiten Einbruch gegeben?
»Hau ab«, sagte Marie mit zitternder Stimme und schob die Tür wieder zu. »Hau ab, bevor ich die Polizei rufe, Luc Curdin. Du und deine Asi-Freunde, lasst euch nie wieder bei mir blicken, verstanden? Nie wieder!«
Dann war sie fort und Luc allein.
***
Marie Dupont zitterte am ganzen Körper. Keuchend lehnte sie sich gegen die geschlossene Wohnungstür und versuchte, wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Curdin! Ihr unbekannter Wohltäter war Luc gewesen, der kleine Halbstarke ihrer Vermieter. Und Gott allein wusste, wie er an die Sachen gekommen war, die »L.« ihr geschickt hatte. Ich muss Brunot
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