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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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    |9| Sommer 1356
    Das Wasser in der Regentonne schimmerte schwarz. Es roch nach Blättern und Schmutz und zugleich wie ein frischer Trunk. Mathilde
     beugte sich über den Wasserspiegel. Wer war schon wirklich mit sich zufrieden? Sie zog eine Haarsträhne durch die Finger.
     Natürlich hätte sie die Locken vom Vater geerbt haben können. Statt dessen hatte sie seine schmalen Lippen bekommen und von
     der Mutter die breiten Wangenknochen.
    Sie tauchte die Hände ins Wasser, schöpfte und wusch sich das Gesicht. Die herabstürzenden Tropfen brachen die Oberfläche
     auf. Krause Wellen zerstörten ihr Abbild und setzten es wieder zusammen. Indem sie mit den Fingern durch das Haar fuhr, trocknete
     sie die Hände ab. Nächsten Sommer würde sie schwimmen lernen. Sie konnte ja im Mühlteich beginnen, im flachen Wasser.
    Sie kehrte sich zum Eingang des Warenhauses und öffnete das Schloß. Der Riegel war gefettet, er rutschte leicht beiseite.
     Im Warenhaus atmete man wie durch einen staubigen Pelz, die Luft war dick, der Husten sammelte sich in der Kehle. Spärliches
     Licht fiel durch die Dachluken.
    Mathilde holte den Reisigbesen hinter der alten Kirchenglocke hervor, die auf einem Podest einen tausendjährigen Schlaf schlief,
     und wischte, den Besen hoch aufgereckt, in den Winkeln der Regale die Spinnweben fort. Als sie mit dem Stiel gegen die Weinfässer
     stieß, dröhnten sie dumpf und voll.
    Kaufmann war der beste Stand. Wer als Kaufmann ein wenig nachdachte, verdiente mit seinen Einfällen Geld. Da standen die Honigeimer,
     die Vater zu Dutzenden von einem böhmischen Händler erworben hatte. Fehpelze lagerten daneben, fünfzig geschlagene Scheiben
     Kupfer, Überzüge aus |10| Erfurt, Eisenketten. Mit all diesen Waren würden sie Geld verdienen. Das Saumzeug und die Pelze gingen nächste Woche nach
     Südtirol. Das lange Tuch aus Löwen würden sie auf der Frühjahrsmesse in Frankfurt verkaufen, den ungarischen Wein hier in
     München. Besonders gut gingen die kleinen Reisefäßchen, Adlige nahmen sie gern auf Jagdausflüge mit. Weil der Vater das wußte,
     hatte er die anderen Kaufleute überboten, um großzügige Mengen einkaufen zu können.
    Mathilde wischte ein weiteres Netz fort. Sie stampfte den Besen auf den Boden. Spinnen fielen heraus und flohen unter das
     Regal. Der Vater verlud Pech und Pottasche an der Lände. Er hatte Mathilde gebeten, den Eichmeister zu empfangen. Die Zwillinge
     waren in der Schule bei der Peterskirche, und Vater verließ sich auf seine Tochter. Es gefiel ihr. Sie hatte Überblick. Sie
     wußte, Vater würde die Flößer beauftragen, nächste Woche die Pelze und das Saumzeug fortzuschaffen. Von Südtirol würden sie
     Kupfer und Eisenerz mitbringen, das Vater dann in Nürnberg teuer verkaufen würde, weil es dort viele Schmieden gab.
    Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Die Tür im Warenhaustor öffnete sich, und helles Licht fiel hindurch. Ein Greis trat ein.
     Das weiße Haar fiel ihm lang über die Schultern. Er stand aufrecht, trotz seines hohen Alters, und sah sie wortlos an.
    »Kann ich Euch helfen?« fragte sie.
    Er schwieg.
    »Vertretet Ihr den Eichmeister? Aber wo habt Ihr das Frongelöt, um die Gewichte nachzuprüfen?«
    Seine grünen Augen blickten sie unnachgiebig an. Als suchten sie eine Krankheit.
    »Dies ist das Warenhaus von Kaufmann Neuhauser«, sagte sie. »Vielleicht habt Ihr Euch im Haus geirrt.«
    Er sagte: »Ich suche Nemo.«
    Niemand nannte ihren Vater so. Selbst Mutter sagte »Kauf mann Neuhauser« zu ihm, »mein lieber Kaufmann Neuhauser«, sagte sie, nur einmal hatte Mathilde gehört, wie sie ihn »Nemo« nannte,
     und das war gewesen, als die Zwillinge mit |11| Röteln im Bett lagen und Vater auf eine Handelsreise gehen wollte. Da hatte die Mutter gesagt: »Nemo, laß mich jetzt nicht
     allein.« Sonst sagte sie ohne Ausnahme »Kaufmann Neuhauser«. Woher wußte der Greis Vaters geheimen Namen? »Mein Vater ist
     bei der Lände. Ich kann ihn holen, wenn Ihr wünscht.«
    »Dein Vater.« Er sagte es und nickte langsam. »Und wo ist deine Mutter?«
    »Mutter beaufsichtigt die Mägde und die Köchin, zu Hause. Wer seid Ihr? Was wünscht Ihr von ihnen?«
    »Ich bin ein alter Freund.« Er drehte sich zur Tür um. »Ein alter Freund.« Damit trat er nach draußen und schloß die Tür hinter
     sich.
    »Wartet!« Sie lehnte den Besen an das Regal und eilte hinaus. Der Greis war fort. Ein Eselkarren fuhr vorüber, ein Junge trieb
     drei Ziegen vorbei.

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