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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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den Gedanken ganz woanders. Sie stand auf der anderen Straßenseite, direkt vor dem Eingang der Polizeiwache, und ihr rotblondes Haar glänzte in der Morgensonne. Luc hatte noch nie etwas Schöneres gesehen - außer gestern und bei all den anderen Gelegenheiten, bei denen er erfolgreich versucht hatte, einen Blick auf sie erhaschen zu können.
    Marie Dupont. Zwanzig Jahre jung, Studentin und Untermieterin seiner Eltern. Und außerdem der Traum seiner schlaflosen Nächte.
    Betont lässig schlenderte Luc über die Straße und näherte sich ihr, erkannte aber schon von weitem, dass irgendetwas mit Marie nicht stimmte. Sie wirkte müde, ihr Haar war zerzaust, und trotz des Frühlingswetters trug sie einen Mantel, den sie mit der Hand zusammenhielt, als wäre ihr kalt.
    »Salut, Marie«, sprach er sie an, als sie ihn nicht bemerkte. »Ça va?«
    Marie zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte. Dann drehte sie sich langsam um. Erst jetzt fiel Luc auf, dass ihr Kleid, das sie unter dem nur notdürftig geschlossenen Mantel trug, an mehreren Stellen zerfetzt war. Was zum… , dachte er.
    Es dauerte eine Weile, bis Marie ihn erkannt hatte. »Luc«, sagte sie leise und strich sich mit der linken Hand eine Strähne ihres vom Wind durchwehten Haares hinter das Ohr. Die Geste wirkte fahrig, einstudiert. Luc sah Kratzer an Maries Unterarmen. Spuren eines Kampfes.
    »Wer war das, Marie?«, fragte er. Kein Was, kein Wie - sie sollte sehen, dass er sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhielt. »Sag mir den Namen und ich kümmere mich um das Schwein.«
    Luc hatte mit vielem gerechnet - mit Gelächter, Spott, Tränen -, aber sie blickte ihn nur weiter an, verständnislos und ungerührt von seinem ritterlich gemeinten Angebot. Als käme er aus einer anderen Welt, deren Sitten und Gebräuche ihr fremd waren. Plötzlich bog ein Streifenwagen um die Ecke des Gebäudes und hielt direkt neben ihnen an. Ein kahlköpfiger, hagerer Mann stieg aus, lief um das Fahrzeug herum und öffnete die Beifahrertür. Dann legte er Marie eine Hand auf die Schulter und bugsierte sie auf den Sitz. Luc beachtete er gar nicht.
    »He«, protestierte der Junge. »Was soll denn das? Ich kenne die Frau, lassen Sie sie gefälligst in Frieden, ja?«
    Der Glatzkopf hatte gerade die Tür geschlossen, als er sich zu Luc umdrehte. »Polizeiliche Ermittlungen, Kleiner«, sagte er ernst. »Das geht dich nichts an.«
    »Und ob mich das was angeht«, brauste Luc auf. »Ich kenne sie. Marie, sag mir, wie das Schwein heißt, hörst du? Sag mir den Namen, dann kümmere ich mich um alles. Die Flies können da gar nichts!«
    Doch Marie starrte nur aus dem Fenster, als wäre sie geistig abwesend. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg der Polizist wieder ein und startete den Motor.
    ***
    »Na, da scheinen Sie aber einen wahren Beschützer an Ihrer Seite zu haben«, sagte François Brunot, Assistent von Chefinspektor Pierre Robin und Mitarbeiter der Lyoner Mordkommission, setzte den Blinker und bog ab. »Gerade einmal drei Käse hoch und macht schon auf Prinz Eisenherz der Moderne.«
    Doch die als scherzhafte Auflockerung gemeinten Bemerkungen verfehlten ihre Wirkung. Das Opfer - Mademoiselle Dupont , rief er sich in Gedanken zur Ordnung, sie hat einen Namen; spar dir den Polizeisprech fürs Büro! - gab mit keiner Regung zu verstehen, dass sie ihn überhaupt gehört hatte. Nachdenklich kratzte sich Brunot mit der Rechten über den kahlen Schädel, während er den Wagen Richtung Notre Dame de Fourviere steuerte. Irgendwo in der Nähe dieser alten Basilika wohnte sie, laut ihrer Aussage.
    Die Kleine war irgendwann in der Nacht auf der Wache aufgetaucht, so hatte man ihm bei Dienstantritt berichtet, und hatte was von einem Überfall gefaselt. Von lebenden Schatten, die einen Touristen gefressen hätten. Eine typische Schockgeschichte, so hatten die Kollegen geglaubt - doch dann waren zwei Leichen gefunden worden, just am von ihr beschriebenen Ort und grauenhaft verunstaltet. Es hatte ausgesehen, als wären Wildschweine über die zwei jungen Männer hergefallen - nur noch viel schlimmer. Robin und sein Team standen vor einem Rätsel, zu dessen Aufklärung auch die Aussage der verstörten Dupont nichts beitragen konnte. Zumindest noch nicht.
    »Der Sohn meiner Vermieter«, murmelte sie plötzlich vom Beifahrersitz.
    Überrascht drehte Brunot den Kopf. »Hm?«
    »Der Junge«, sagte sie leise und ohne den Blick von der Fahrbahn vor ihnen zu wenden. »Luc Curdin. Ich wohne bei

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