0924 - Lockruf der Psychode
Sicht reichte bis zum Horizont, wo sich eine felsige Gebirgskette erstreckte. Die golden bis schwarz wogende Wolkendecke über ihnen ließ jedoch ein neues Unwetter erahnen. „Hier war es!" stellte Margor fest. Für ihn bestand kein Zweifel mehr, daß dies der Kakteenhain war, in dem einst Harzel-Kolds museale Bastion gestanden hatte.
Hierher hatte er Virna Marloy gebracht. Hier hatte er mit ihr einen Sohn gezeugt. Hier war er gestorben, in geistiger Umnachtung, von Alpträumen und Depressionen gequält.
Und dort, irgendwo in den Bergen, die nun wieder hinter einer undurchdringlichen Wand aus Wüstenstaub verschwanden, hatte Virna Marloy ihn, Boyt Margor, unter der Aufsicht der Zwotter zur Welt gebracht.
Der große freie Kreis innerhalb der ausgedehnten Kakteenwälder, der nur von Jungpflanzen bewachsen war, zeugte deutlich davon, daß es hier einmal zur Entladung alles vernichtender Kräfte gekommen war. Aber wo war der Krater, der nach der Implosion zurückgeblieben sein sollte?
An seiner Stelle stand noch immer Harzel-Kolds Trutzburg! ^Es war alles so, wie Margor es in Erinnerung hatte. Die Fenster in dem dicken Gemäuer aus dem schieferartigen Gestein hatten schwere Läden. Sie waren noch geschlossen, wie immer während eines Sturmes. Er glaubte in seinem Geist sogar die Sirene zu hören, die die Sturmentwarnung verkündete. Sie heulte einmal, zweimal und noch ein drittes Mal. „Was ist das?" fragte Pyon Arzachena. Die anderen schienen die Sirene ebenfalls zu hören.
Plötzlich öffneten sich bei dem Gebäude sämtliche Fensterläden auf einmal. Margor hörte sogar das Geräusch der Rollen in den Schienen und das Einrasten der Läden. „Scheint bewohnt zu sein", stellte Hotrenor-Taak fest.
Margor hielt den Atem an, als sich die beiden Flügel des großen Tores öffneten. Irgendwie erwartete er, daß Harzel-Kold mit Virna Marloy heraustreten würde. Er hatte Harzel-Kold nicht persönlich gekannt, er war schon vor seiner Geburt gestorben, aber er hatte eine deutliche Vorstellung von ihm: Ein großer, stolzer und gutaussehender Vincraner, bevor die Psychode ihn in den Wahnsinn getrieben hatten.
Aus dem Tor ergoß sich ein Rudel kleiner Gestalten. Zwanzig, dreißig, und es wurden immer mehr, die schnatternd und singend ins Freie strömten. Insgesamt mußten es an die sechzig sein, die mit lautem Hallo auf sie zukamen. „Gefahr?" erkundigte sich Hotrenor-Taak.
Boyt Margor winkte ab. „Zwotter!" stieß Prener-Jarth mit rauher Stimme hervor. Er sagte es in einem Ton, als ob er mit Halutern konfrontiert würde, die für die vincranischen Lemurer-Abkömmlinge noch immer ein Schreckgespenst waren. „Laß die Waffe stecken, Jarth", ermahnte Margor ihn. „Du wirst die Legenden über die Zwotter vergessen müssen. Sie sind keine hinterhältigen Magier, sondern harmlose Gnomen. Leg deine Scheu vor ihnen ab, es sind unsere Freunde."
Prener-Jarth entspannte sich. Die Vincraner haßten und fürchteten die Zwotter nicht, sie mieden sie bloß, und die Beschäftigung mit den kunsthandwerklichen Erzeugnissen dieser kleinwüchsigen Humanoiden war für jeden Vincraner ein sträfliches Vergehen. Die Vincraner meinten natürlich die Beschäftigung mit den Psychoden und vergaßen dabei, daß die primitiven Nachahmungen der heutigen Zwotter nur ein harmloser Abklatsch waren.
Margor nahm sich vor, den Vincraner darüber aufzuklären, daß die Überlieferungen seines Volkes ein verzerrtes Bild der Zwotter wiedergaben. „Was viel Glück und Freudigkeit!" sangen die Zwotter. „Und aber verheißungsvolles Wieder-Wiederkommen!"
Margor schloß aus diesem gesungenen Kauderwelsch, daß die Zwotter seine Rückkehr erwartet hatten. „Was plappern diese Kobolde?" erkundigte sich Alban Visbone verwirrt. „Das scheint Interkosmo zu sein.
Aber können sie sich nicht normal ausdrücken?"
„Bei den Zwotter nkommt es weniger auf das Wort als auf die Betonung an", erklärte Margor, hatte aber keine Lust, mehr dazu zu sagen. Nur Schneeflocke schien den Sprechgesang der Zwotter zu verstehen. „Ihr Gesang drückt Freude aus", stellte er in ähnlichem Singsang fest. „Sie scheinen überglücklich darüber zu sein, daß du zu ihnen zurückgekommen bist, Boyt."
Die anderen mußten Platz machen, als die Zwotter herbeiströmten und Margor umringten. Aber sie waren darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen und vermieden ehrfurchtslos jeden Körperkontakt. Immer wieder sangen sie: „Hocherfreutes Tiefbeglückt verlorengegangener
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