0930 - Das Stigma
Stimmen abgegeben, aber trotzdem nicht unbedingt so laut, daß ich hätte Worte verstehen können.
Mein Italienisch war nicht besonders gut, aber verständigen konnte ich mich in dieser Sprache. Ich brauchte auch nicht zu verhungern. Da ich in diesen Ort als Fremder gekommen war, wußte man sicherlich über mich Bescheid, obwohl ich noch nicht von irgendwelchen Leuten angesprochen worden war. Man hatte mich einfach nicht zur Kenntnis genommen oder nehmen wollen.
So blieb ich am Fenster stehen und wartete. Es mußte sich doch etwas tun. Die Frauen hatten sich nicht grundlos in der ersten halben Stunde des neuen Tages versammelt. Irgend etwas würde laufen müssen, eine andere Lösung gab es nicht.
Sie rückten noch enger zusammen. In der Finsternis sah es aus, als wäre eine Welle dabei, sich zu bewegen, die schließlich stoppte. Dann erschienen über den Schatten hellere Flecken, mit deren Existenz ich zunächst nicht zurechtkam, bis mir einfiel, daß die Flauen ihre Köpfe zurückgelegt hatten, um in die Höhe schauen zu können. Diese hellen Flecken waren Gesichter!
Wer schaute, der hatte auch ein Ziel.
Um meine Lippen huschte ein Lächeln, denn ich hatte erkannt, daß sie an der Wand des Hauses in die Höhe blickten. Für einen Moment erstarrte alles unter mir. Ich hörte einfach nichts mehr, keine Stimmen, kein Räuspern, es blieb so still.
Sekunden später wehten mir Stimmen entgegen. Nicht unbedingt laut, man sprach leise, aber all die Einzelstimmen vermengten sich zu einem für mich flüsternden Windstoß, der gegen die Hauswand, das Fenster und meine Ohren wehte.
Worte, die sich zu einem Satz zusammenfügten. Immer wieder dieselben Worte.
Ich kam damit nicht zurecht. Es war wie ein Windstoß, der sich kurz vor dem Erreichen meiner Ohren aufteilte, aber er hörte sich auch unheimlich an.
Ich hatte mich wieder etwas zurückgezogen, damit sich meine Gestalt nicht in der Fensteröffnung abmalte. Hören konnte ich die Frauen allerdings weiterhin.
Da war plötzlich ein Vorhang zur Seite gerissen worden, denn auf einmal verstand ich sie auch.
Sie sprachen immer denselben Satz. Jetzt wußte ich, daß sie ihn schon einmal gesagt hatten, allerdings tiefer im Ort, denn er hatte mich aus dem Schlaf gerissen.
Dabei war ich nicht mal gemeint, sondern die Frau, mit der ich gekommen war.
»Sie ist wieder da! Sie ist wieder da! Sie ist wieder da…«
***
Ich blieb auf meinem Platz stehen und hörte einfach nur zu. Die Stimmen blieben. Sie wurden nicht lauter, nicht intensiver, und sie schwangen auf einer Ebene. Es war wie das Heranrollen einer Botschaft, die allerdings meiner Begleiterin galt, denn Marcia war in diesem Ort bekannt. Hier hatte alles für sie begonnen. Hier hatte sie das Blut des Engels auffangen können, war damit nach England gegangen und hatte sich als Heilerin einen Namen gemacht. Mit Hilfe des Blutes war sie in der Lage gewesen, auch große Wunden bei Menschen zu schließen. [1]
Es blieb dabei nichts zurück, was ich am eigenen Leibe erlebt hatte, denn ich war durch den Messerstoß eines Mannes namens Bill Gates schwer verletzt worden. Wäre Marcia nicht gewesen, wäre ich womöglich verblutet. Aber ich lebte, ich war in Italien und verdankte ihr mein Leben.
Tief atmete ich durch, während ich nach wie vor steif vor dem offenen Fenster stand.
Wie Wellen rollten die Worte weiterhin zu mir hoch. Und der Satz blieb.
»Sie ist wieder da. Sie ist wieder da…«
Es galt einzig und allein nur ihr. Ich war außen vor und dachte daran, daß Marcia eigentlich längst hätte wach sein müssen, um auch zu reagieren.
Davon merkte ich nichts. Auch die Frauen reagierten nicht so wie Personen, die eine andere über sich am Fenster gesehen hätten. Sie blieben bei ihrer Aussage, als wollten sie die Person auch weiterhin locken.
Natürlich dachte ich darüber nach, wie ich mich verhalten sollte.
Hinuntergehen, den anderen etwas zurufen, sich konkreter auszudrücken und mir zu sagen, was sie von Marcia wollten?
Nein, ich ließ es bleiben. Etwas anderes war viel wichtiger. Ich wollte der Mann im Hintergrund bleiben, und ich wußte plötzlich, daß die Frauen ihren Platz so leicht nicht verlassen würden. Sie hatten sich gesammelt, sie hatten etwas vor, wobei ich nicht glaubte, daß sie Marcia positiv gegenüberstanden, denn eine Person wie sie mußte diesen Dorfbewohnern einfach suspekt sein.
Leider hatte mir Marcia zu wenig von ihrer Zeit in ihrem Heimatort erzählt. Ich mußte mir selbst ein Bild
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