0930 - Das Stigma
an Raniel, den Gerechten zu denken oder an Belial oder an Elohim, einen Jungen, der ebenfalls zwischen den Fronten existierte. Die Schwarzweißmalerei hatte sich etwas verschoben, allerdings nicht für alle Menschen, sondern nur für einige wenige, die eingeweiht waren.
»Sie glauben trotzdem nicht daran?« fragte mich Alexa.
»So ist es.«
»Dann haben Sie nichts dagegen einzuwenden, daß Marcia mit dem Blut eines Engels heilt?«
»Wie könnte ich?« erwiderte ich lächelnd, »wo sie mich ebenfalls geheilt hat.«
»Das ist verständlich, Signore Sinclair. Aber wir sehen es trotzdem nicht so. Hier ist etwas Schlimmes passiert, und wir rechnen auch eher damit, daß es kein Engel gewesen ist, der sein Blut abgegeben hat.«
»Wer war es dann?«
Sie senkte den Blick.
Ich wußte sehr gut, daß sie eine Antwort parat hatte, sie aber nicht aussprechen wollte, weil es ihr selbst unwahrscheinlich erschien und sie damit nicht klarkam. Das war für Menschen einfach nicht zu begreifen, aber ich wollte es wissen und forderte sie mit deutlichen Worten auf, mir eine Antwort zu geben.
»Nein«, sagte sie, »nicht hier.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nicht an diesem Ort.«
Ich breitete die Arme aus. »Einverstanden. Dann eben woanders. Wo gehen wir hin?«
Alexa Tardi überlegte und suchte dabei nach einer Antwort. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich möchte Ihnen wohl etwas zeigen. Ich denke, Sie werden danach anders über die Engel sprechen.«
»Ich bin gespannt.«
»Dann kommen Sie mit?« Ohne sich noch weiter um mich zu kümmern, drehte sie sich um und ging weg.
Die anderen Frauen blieben stehen. Sie schauten mich nur an und warteten darauf, daß ich mich in Bewegung setzte und Alexa Tardi folgte. Den Gefallen tat ich ihnen.
Alexa war bereits verschwunden, aber ich hatte gesehen, wohin sie gegangen war. Die Frau war regelrecht in die Dunkelheit einer kleinen Gasse eingetaucht, wo es finster war, daß sie schon nach wenigen Metern nicht mehr gesehen werden konnte. Aber ich hörte sie, denn sie trat hart auf, und die hell klingenden Echos erreichten meine Ohren.
Nur über mir war es etwas heller. Dort lag der Himmel wie ein straff gespanntes Tuch, unter dem sich ein feiner Wolkenschleier ausbreitete, der mir die Sicht auf den Großteil der Gestirne nahm. Zumindest konnte ich sie nicht klar erkennen. Sie wirkten wie verschwommene Lichter inmitten eines gewaltigen Meeres.
Der Weg führte bergab, und neben einem an der Hauswand abgestellten Fahrrad hatte die Frau auf mich gewartet. Ich blieb neben ihr stehen und fragte: »Wohin gehen wir?«
Sie ließ das Kopftuch auf und strich nur darüber hinweg. Ihre Augen erinnerten mich an dunkle, glänzende Perlen, und sehr intensiv schaute sie mich an.
»Wir werden in die Kirche gehen.«
»Einverstanden. Und dann?«
»Ich sage und erkläre hier nichts, Signore Sinclair. Sie müssen sich schon überraschen lassen.«
»Da wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«
»Das glaube ich auch.«
Sie wollte gehen, aber ich hielt sie an der Schulter fest. Unter meiner Berührung zuckte sie zusammen, als hätte ich etwas Schlimmes getan.
»Wundern Sie sich eigentlich nicht, daß ich zusammen mit Marcia gekommen bin, das Haus aber allein verlassen habe?«
»Nein, ich habe es mir abgewöhnt, mich zu wundern.«
»Allgemein? Oder nur was Marcia angeht?«
»Vielleicht beides.«
»Da haben Sie wohl recht.« Alexa war schon gegangen, und ich folgte ihr.
»Aber Sie gestehen mir doch zu, daß ich mich wundere. Oder ist das auch verkehrt?«
»Was sollte an dieser menschlichen Regung denn verkehrt sein?«
»Eben, und deshalb werde ich auch mit Ihnen darüber reden. Diesmal geht es nicht um Marcia oder um das Engelsblut. Mich wundert es einfach, daß es hier in Aldroni wohl nur Frauen gibt, denn bisher habe ich noch keinen einzigen Mann gesehen.«
»Ach ja?«
»Oder bin ich einem Irrtum aufgesessen?«
Alexa Tardi ging weiter, schaute dabei zu Boden und schüttelte den Kopf. »Nein, das sind Sie wohl nicht. Gehen Sie davon aus, daß Sie es nur mit Frauen zu tun haben?«
»Das muß ich wohl. Aber meine Frage bleibt. Wo sind die Männer? Haben Sie sich versteckt? Sind Sie in den Häusern und in ihren Betten geblieben, um den Frauen das Feld zu überlassen?«
Sie drehte sich nach links, prallte gegen mich, schubste mich etwas zur Seite und streckte dabei ihren linken Arm aus, bei dem die ebenfalls gestreckte Hand schräg in die Höhe wies. »Sehen Sie dort den Turm, Signore
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