0931 - Shinigami
ihr war der Shinigami sich noch am sichersten, dass er auf der richtigen Fährte war. Sie besaß die Todesangst, die den Lebenswillen erzeugte, die den gesuchten Dämon anzog, in hohem Maß und er hatte sogar den Eindruck, dass die Panik der jungen Frau jedes Mal, wenn er sie gesehen hatte, größer gewesen war. Der Shinigami war überzeugt, dass er bei Alphonsine Daladier, so hieß sie, an der richtigen Adresse war. Er war ihrem unbewussten Ruf mehrfach gefolgt - doch immer war er zu spät gekommen. Er hatte nur Alphonsine, nicht den Dämon, der sich an ihr erquickt hatte, gefunden, kaum noch lebendig, beinahe tot, aber nie war ihr Lebenswille so schwach gewesen, dass er sie hätte erlösen können, ohne seinen Auftrag und seine Bestimmung zu verletzten. Das letzte Mal hatte er sogar beschlossen, ihr nicht mehr von der Seite zu weichen, in der Hoffnung, dass seine Beute auftauchen würde. Aber dann war er doch wieder von ihrer Seite gerufen worden, von einem Menschen, dem der Tod bevorstand und der panische Angst davor zu haben schien. Wer schließlich sagte, dass dieses Wesen sich nur von Alphonsine ernährte?
Auf einmal wurden die Überlegungen des Shinigami unterbrochen. Wieder starb hier in der näheren Umgebung ein Mensch - und dann war da noch eine Kraft, die bei ihm war. Nicht ganz identifizierbar. Vielleicht weißmagisch.
Die Weißmagierin, nach der er suchte?
Der Shinigami richtete sich auf und verschwand.
Vielleicht war ihm das Jagdglück diesmal hold.
***
Das Wohnzimmer der Blazons war nur spärlich von einigen Kerzen auf der Anrichte und dem Couchtisch erhellt. Das Licht flackerte und verlieh dem sonst gemütlichen kleinen Zimmer eine gespenstische Atmosphäre. Mitten im Raum stand ein riesiges Krankenbett auf Rollen, und in den weißen Laken lag die zerbrechliche Gestalt eines älteren Mannes. Leises Schluchzen war zu hören. »Claude!… Oh mein Gott, Claude…« Yasmina Azari warf genervt einen Blick auf die alte, etwas dickliche Frau, die neben dem Kranken am Bettrand saß und herzzerreißend in ihr Taschentuch schluchzte. Dann beugte sie sich wieder herunter und zeichnete weiter an den Kreidezeichen, die sie um das Bett herum malte, auf dem Madame Blazon saß und ihrem todkranken Mann die Hand tätschelte.
Ich habe mir wirklich einen Scheißjob ausgesucht. Ich sollte mich wieder an die Kasse vom Carrefour setzen, die Regale mit Tütensuppen einräumen und nicht mehr so einen Budenzauber veranstalten. Aber ich bin ja selbst schuld. Was höre ich auch auf diesen blöden Gaston. Yasmina zog sich ärgerlich den lilafarbenen Fransenrock zurecht, der zu ihrer Berufskleidung als Geistermedium gehörte, und malte weiter. Sie hatte es bis auf ein paar Striche mit der weißen, in Weihwasser getränkten und wieder getrockneten Kreide geschafft und schließlich waren auch die letzten Ornamente auf den dunklen, fadenscheinigen Teppich gezeichnet, die das Abwehrsigill um das Bett schließen sollten. Yasmina stand auf und zupfte sich sowohl den Rock als auch die Tunika aus rosefarbener Seide zurecht. Ihre geflochtenen Rastazöpfe hatte sie sich schon vorher aus dem Gesicht gebunden.
Ehrfürchtig starrte Paulette Blazon das von ihr bestellte Medium an. »Und jetzt ist mein Claude geschützt davor, in die Hölle zu fahren?«
Yasmina nickte gelassen. »Sie und ich, wir werden jetzt den Erzengel Raphael anrufen, den Herrn über die Winde, auf dass er Ihren Mann friedlich ans Himmelstor geleite.«
Paulettes Gesicht spiegelte eine Mischung aus Bewunderung und Angst wider, als Yasmina mit geschlossenen Augen mit der Rezitation eines alten ägyptischen Trinkliedes begann, das Paulette Blazon wohl kaum kannte. Glücklicherweise hatte Yasmina seinerzeit bei ihrem - abgebrochenen - Studium der Orientalistik ihre Zeit entgegen der Meinung ihrer Professoren nicht verschwendet und sich mit Gaston Naumurs angefreundet, einem verkrachten Musikstudenten, der jetzt an der Opéra-Comique Bühnenarbeiter war. Gaston, ein Liebhaber von schönen Frauen wie Yasmina und leidenschaftlicher Instrumentesammler, hatte ihr nicht nur wunderschöne Nächte mit viel Vergnügen bereitet, sondern auch die Leidenschaft für nordafrikanische Volkslieder beigebracht. Und Ideen geliefert - wie die, sich als Medium für geistergläubige Mitbürger zu verdingen.
Yasmina sang die unverständlichen Worte und malte dabei mit den Fingern und Händen unsichtbare Bilder in die Luft. Paulettes Stimme versuchte, der einfachen Melodie, die Yasmina
Weitere Kostenlose Bücher