0931 - Shinigami
vorgab, zu folgen, doch ihre Stimme zitterte. Ihr Blick, das konnte Yasmina erkennen, wanderte immer wieder zu Claude, ihrem Ehemann, der im Endstadium Krebs hatte.
Yasmina hatte sich oft gefragt, ob das richtig war, was sie tat, immerhin täuschte sie Hoffnung vor und verdiente sich damit ihr Geld. Sie glaubte nicht eine Sekunde daran, dass sie mit dem Trinklied der Berber und den paar aus einem Buch für Hobby-Magier abgemalten Zeichen wirklich einen Dämon (die es genau genommen ja gar nicht gab) hätte abhalten können. Claude Blazon hier hatte Krebs, Leukämie im Endstadium, das hatte sie mit einem Anruf unter falschem Namen im Krankenhaus herausgefunden, und war von den Ärzten aufgegeben worden. Zweimal am Tag kam eine Krankenschwester der Sozialstation vorbei und verabreichte Claude Blazon eine Spritze mit Morphium. So tat Yasmina also nichts anderes, als ein wenig Hoffnung da zu geben, wo es eigentlich keine mehr gab. Eine Heilung hätte sie nie versprechen können, dazu war sie zu ehrlich und das hatte sie Paulette Blazon auch ganz klar gesagt.
Ein schlechtes Gewissen also? Wozu? Es tröstete Paulette, verschaffte Yasmina ein wenig Geld für die Haushaltskasse der WG und ein weiteres Semester in altorientalischer Linguistik und Claude bekam von all dem sowieso nichts mehr mit. Es war allen geholfen.
Yasmina beendete das Lied und hielt den Ton so lange wie möglich. Es gehörte zu ihrem Repertoire, am Ende des Berberliedes scheinbar in Trance zu verfallen und dann, nach einer weiteren Viertelstunde Gebrumme, Gesinge und der Rezitation von aramäischen Gedichten zu verkünden, die Dämonen seien gebannt und der Erzengel Raphael stünde neben dem Bett und würde darüber wachen, dass Claudes Seele in den Himmel eingehe.
Doch als Yasmina nach der obligatorischen Viertelstunde Singsang die Augen öffnete, erschrak sie zu Tode.
Am Fuß von Claude Blazons Krankenbett stand kein Engel. Dort stand jetzt ein wie ein japanischer Samurai gekleideter Mann und hatte ein scharfes japanisches Schwert über den Kopf gehoben. Er sah furchterregend aus und so, als würde er gleich zuschlagen, auf Yasmina herunter.
Yasmina Azari entfuhr ein Schreckenslaut. Sie konnte sich nicht rühren und überlegte fieberhaft, wie dieser seltsame Mann - es konnte ja nur ein Verrückter oder ein Schauspieler sein! - hier in die kleine Parterre-Wohnung der Blazons gekommen war, die in Aubervilliers lag, immerhin einem Viertel von Paris, das eine Menge Ausländer und Immigranten aufzuweisen hatte.
Sie nahm sich zusammen, als sie sich an der Schulter gepackt und geschüttelt fühlte. »Mademoiselle Yasmina, was ist mit Ihnen?… Mademoiselle?«
Fahrig wischte Yasmina die Hand von ihrer Schulter. »Ich… schon gut. Ich war nur etwas überrascht durch den Herrn hier.« Sie versuchte ein Lächeln und wedelte mit der Hand schwach in die Richtung, in der der Krieger stand. Der japanische Samurai lächelte zurück, senkte sein Schwert und verneigte sich.
Doch Paulette starrte sie nur verständnislos an. »Der Herr? Meinen Sie Claude? Aber der liegt doch schon die ganze Zeit in seinem Bett.«
Yasmina fuhr herum. »Nein! Nein, ich meine diesen Herrn da neben dem Bett, den mit dem Schwert!«, rief sie und wies mit dem Finger auf den japanischen Samurai, der in seiner Verbeugung verharrte.
Verblüfft starrte Paulette die Stelle an, an der Yasmina den Samurai stehen sah. »Da ist doch niemand.« Dann wandte sich die rundliche Dame wieder Yasmina zu und wich mit erschrockenem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück. »Ah, mon dieu!«, hauchte sie dann. »Ich wusste, dass ich mit Ihnen die Richtige für meinen Claude gerufen habe! Sie sehen den Engel, der ihn schützen will, Sie können ihn sehen, Sie sind nicht wie andere Sterbliche! - Oh bitte, Mademoiselle Yasmina, Sie müssen Claude helfen, bitten Sie den Engel, ihn ins Paradies zu geleiten!« Bevor die entsetzte Yasmina wusste, wie ihr geschah, wurde sie von Paulette, die plötzlich hinter ihr stand, weiter nach vorn geschoben, in Richtung des unheimlichen Samurais, der sich jetzt wieder aufrichtete und gar nicht mal unfreundlich auf Yasmina und Paulette herabsah.
Sehe ich jetzt wirklich Geister? , fragte sich Yasmina und fühlte einen Schauder wie einen Schwall eiskalten Wassers über ihren Rücken laufen. Hatte sie mit dem Gesang und den Zeichen auf dem Boden wirklich einen Dämon beschworen? Die Beschwörung war angeblich dazu da, einen Totengeist zu rufen. Sie schüttelte unwillig den
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