0947 - Geballte Wut
nicht Nici…
»Zamorra!«, rief die Illusion, duckte sich mit überraschendem Geschick unter Annes Blitzen hinweg und eilte auf ihn zu. »Zamorra, hier!«
Erst als ihm die Geige in der Hand des Chefinspektors auffiel, begriff Zamorra, dass ihm sein Hirn keinen Streich spielte. Pierre war wirklich da! Und er brachte den einen Gegenstand, der vielleicht - vielleicht! - der Deckel für diese Büchse der Pandora darstellte.
Zanns Geige. Das einzige Instrument, das den »Schlafenden«, je hatte besänftigen können.
Hoffnung!
***
Was immer dieser Zamorra Ihnen da drin erzählt hat - ich hoffe bei Gott, es war es wert. Denn wenn nicht, Robin, geht der nächste Tote auf Ihre Kappe. Nicht auf die der Crentz.
Roger Richters Worte hallten noch immer in Pierres Gedanken nach. Seit Stunden hatten sie an ihm genagt, ihn blockiert und ihn mit Fragen konfrontiert, die ihn in den Wahnsinn getrieben hätten, hätte er nicht kurzerhand die Initiative ergriffen. Pierre war aus dem Lyoner Polizeihauptquartier gestürmt, die vermaledeite Geige unter dem Arm, und hatte erst wieder haltgemacht, als er Paris erreichte. Und die Station, in der alles seinen Anfang genommen hatte. Den Ort, an dem er Zamorra vermutete.
Und er wurde nicht enttäuscht.
»Was… was machst du hier?«, fragte der Meister des Übersinnlichen benommen, als Pierre sich neben ihm auf die hölzernen Schwellen der Metro kniete.
»So genau weiß ich das selbst nicht«, antwortete er wahrheitsgetreu und warf sich zur Seite, um einem der gleißend hellen Blitze auszuweichen. »Ich dachte mir, du könntest das vielleicht gebrauchen.« Dabei deutete er auf Zanns Geige.
»Gut gedacht.« Zamorra blinzelte mehrfach, kam allmählich wieder zu Kräften. »Jetzt brauchen wir nur noch jemanden, der spielen kann.«
Und Pierre grinste. »Desjardins! Wo zum Teufel stecken Sie, Mann?«
Sein Ruf war kaum verklungen, da kam der stämmige Stationsaufseher um die Ecke, die vom Bahnsteig zur Treppe führte. Er wirkte zögerlich, aber entschlossen - und er nickte dem Chefinspektor zu. »Geben Sie her.«
Pierre hob den Arm und warf ihm die Geige zu. In hohem Bogen flog das wertvolle Stück, ihre letzte Hoffnung, durch das Meer der Entladungen und erreichte ungehindert sein Ziel.
»Thierry?« Zamorra riss zweifelnd die Augen auf.
»Als ich ihn oben traf, sagte er, er habe eigentlich immer Musiker werden wollen«, erklärte Pierre hastig. »Er meinte, er beneide Leute wie Zann, die einfach alles hinter sich ließen und ihr Leben einem Detail widmeten. Der Unterhaltung der Pariser Fahrgäste.«
Zamorra schüttelte den Kopf. »Spielen Sie, Thierry! Spielen Sie um unser aller Leben!«
***
Der Rest war überraschend einfach. Angesichts des Chaos, in dem er geschah, schon nahezu lachhaft simpel. Thierry nahm das Instrument, führte es an sein Kinn - und spielte. Aus der Erinnerung heraus, ohne jegliche Noten, brachte der stämmige Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe ein klassisches Stück nach dem anderen zum Vortrag, unbeirrt und sichtlich ungerührt von dem Trubel, der ringsherum seinen Lauf nahm. Thierry war Musik, hatte nur Augen und Ohren für die Werke, die er spielte, und die Klänge, die er erzeugte.
Und je weiter er kam, desto mehr spürte Anne, wie ihre Kraft schwand und ihr Zorn verflog.
Schließlich brach sie zusammen. Keuchend und zitternd vor Erschöpfung und Überforderung blieb sie auf den Gleisen liegen, ein bebendes Häuflein Elend, verwirrt und verloren in der Fremde. Was… Was geschieht mit mir?
Bilder zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Tote, Morde, Zerstörung. Momentaufnahmen aus einer anderen Wirklichkeit - einer, in der ihr Instinkt ihr Handeln bestimmt hatte und sie von einer Macht erfüllt gewesen war, die alles, was sie je zuvor verspürt hatte, mühelos übertraf. Doch nun war sie fort. Sie war verschwunden, so unerklärlich und spontan, wie sie gekommen war. Nur die Angst war geblieben. Die Ratlosigkeit.
Die Schuld.
War ich das alles? Habe ich dies verursacht? Ihr Blick glitt über die brennenden Gegenstände, die zerstörte Station. Warum? Was ist es, das mich immer wieder so wütend werden lässt?
Sie wollte doch nicht morden. Was brachte es ihr, Unbeteiligte zu töten? Anne war kein gewissenloser Killer, verdammt! Warum handelte sie nur immer wieder wie einer?
Sie ahnte, dass sie die Wut, die ihr Denken verlassen hatte, nicht lange würde fernhalten können. Früher oder später vergingen ihre Schuldgefühle und machten abermals dem
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