Insel der glühenden Sonne
Der Richter runzelte die Stirn, sah sich im überfüllten Saal um und blätterte in dem schweren Protokollbuch, das vor ihm lag.
Carlendon war ein kleines geschäftiges Dorf am Stadtrand von London, in dem sich die Leute meist nicht für Strafprozesse interessierten. Heute jedoch wollten alle das Urteil über Lester Harris hören, da nicht nur eine, sondern gleich drei bedeutende Familien der Gegend in den Fall verwickelt waren. Und wie es das Schicksal wollte, war Harris durch Heirat mit den Mudlows, der Familie des Richters, verwandt.
Der Angeklagte war ein gut gebauter, gut genährter Bursche mit glatter Haut und ebenmäßigen Zügen, der viel Erfolg bei den Frauen hatte. Lester Harris wurde oft als attraktiv bezeichnet, doch Richter Jonathan Mudlow meinte, gewisse Makel in seinem Gesicht zu entdecken. Er hatte Lesters Augen immer bösartig gefunden – blasse, berechnende Augen, die unter schweren Lidern hervorblickten. Daher wunderte es ihn sehr, dass seine Cousine Josetta, eine reizende junge Frau und gewöhnlich nicht gerade töricht, eine Heirat mit Lester auch nur in Betracht gezogen hatte. Er hatte mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, worauf seine Tante Ophelia ihn einen eifersüchtigen Griesgram schalt, da ihre Tochter immerhin den begehrtesten Junggesellen der gesamten Grafschaft ehelichen sollte.
Und so hatten Josetta und Lester geheiratet. Sie wurden Besitzer von Glencallan, einer schönen Farm, die Lesters Großvater ihm hinterlassen hatte, und bald auch stolze Eltern einer prächtigen Tochter namens Louise May.
Jonathan war bei der Taufe zugegen gewesen. Josetta wirkte geschwächt, was nach den Strapazen der Geburt nur verständlich war, doch man tuschelte, Lester misshandle sie.
Entsetzt fragte Jonathan seine Tante danach, die die Frage einfach abtat. »Unsinn! Wo hörst du nur solche Geschichten? Sicher, Lester ist temperamentvoll, doch würde er nie Hand an Josie legen. Niemals! Und sie hat jetzt sogar eine Dienstmagd. Wie viele Frauen können das schon von sich behaupten? In unserer Familie jedenfalls keine.«
Jonathan studierte die Akte, hüstelte, klopfte auf den Tisch und wandte sich an den Gefangenen. »Man hat Sie des besonders brutalen und grundlosen tätlichen Angriffs auf einen Herrn in Tateinheit mit Körperverletzung für schuldig befunden. Das Opfer ist heute taub und kann den rechten Arm nicht mehr gebrauchen.«
Bei sich dachte er: Und wir wissen überdies, dass ein Zeuge behauptet, es habe bereits mehrere Angriffe gegeben, die nie vor Gericht verhandelt wurden.
Er sah, wie Lester höhnisch grinste und die Augenbrauen hochzog. Selbst jetzt schien die Familie Harris noch zu glauben, sie stünde über dem Gesetz und könne diese Angelegenheit mit Geld aus der Welt schaffen. Sie hatten ihm unverblümt erklärt, dass sie von ihm erwarteten, seinen Cousin mit einer Geldbuße davonkommen zu lassen. Was Jonathan in seiner Urteilsfindung nur bestärkt hatte. Immerhin war das Opfer Matthew Powell-Londy, Besitzer einer Sägemühle, und die Verletzungen, die er davongetragen hatte, würden ihn bei der Ausübung seiner Geschäfte stark behindern. Zudem arbeitete sein Bruder als Juraprofessor in Cambridge und hatte dem Vater, James Powell-Londy, einem ebenso mächtigen wie verbitterten Mann, geraten, die Todesstrafe zu fordern. Beide saßen nun im Saal und funkelten den Richter an.
Andererseits musste Jonathan an Josie denken. Sie hatte vor seiner Tür um Gnade gefleht, worauf er versucht hatte, sie wegzuschicken: »Ich kann dir nicht länger zuhören. Das Verbrechen wurde vor Gericht verhandelt, es ist vorbei.«
»Aber er hat es nicht mit Absicht getan«, beharrte sie. »Es war nur ein Temperamentsausbruch. Er wurde nämlich sehr wohl provoziert. Das Holz, das er bestellt hatte, wurde zu teuer berechnet, und wir können uns ohnehin wenig leisten, wo wir gerade die neuen Ställe bauen.«
Jonathan hatte den Kopf geschüttelt. »Komm, Josie, erzähl keine Märchen, eure Farm läuft gut.«
»O Gott, sieh mich nicht so an. Lester bedauert seine Tat wirklich …«
»Ach ja? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Doch. Du musst ihn freilassen. Er wird es nie wieder tun!«
»Josie, du verstehst mich immer noch nicht. Es gibt zweihundert
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