0953 - Der Fluch von Eden
Natürlich. Komm herein.« Sie trat beiseite.
Das Haus war kühl und lag im Halbdämmer.
»Wie geht es ihm? Ist er noch am Leben? Ich habe immer Augen und Ohren aufgesperrt, um etwas von ihm zu hören - um zu erfahren, ob er das gleiche Glück hatte wie ich und auf irgendwelchen Wegen zurückfand. Jerusalem war kurzzeitig in Christenhand, aber viel später, als dein Großvater…«
»Noch einmal, Nele.« Er hielt immer noch ihre Hand, drückte sie jetzt, und wieder schoss ein Erinnerungsimpuls durch ihren Geist. »Ich bin nicht der Enkel des Mannes, den du kennst.«
Sie sah ihn ratlos. »Sondern?«, fragte sie mit ebender Stimme.
»Ich bin dieser Mann. Ich bin Nikolaus - wenn auch fünfzig Jahre zu spät.«
Sie wünschte, sie hätte glauben können, dass dieser Jüngling sie nur zum Besten hielt - die Erkenntnis, dass er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sprach, war so viel schwerer zu ertragen.
»Nikolaus…«
Ihr wurde schwarz vor Augen, und nur seine schnelle Reaktion bewahrte sie vor einem Sturz.
Und als sie wieder zu sich kam, überreichte der Geliebte von einst und Vater ihres einzigen Kindes - von dem er nichts ahnte - ihr das Geschenk, das sie mit jenem Fluch belegte, der sie auch noch 740 Jahre in der Zukunft fest in seinen Klauen hielt.
Unentrinnbar.
***
Gegenwart
»War es wirklich Nikolaus?«, fragte Zamorra.
»Selbst wenn ich damals noch Zweifel gehabt hätte«, sagte Nele Großkreutz. »All die verrinnende Zeit hat bewiesen, dass er es war . Wenn seine Geschichte nicht gestimmt hätte, würden wir heute nicht miteinander reden.«
Nein , dachte Zamorra, wahrscheinlich nicht.
»Und er sah Jahrzehnte später noch genauso aus wie damals, als es zur Trennung kam?«, fragte Nicole beeindruckt.
»Nicht ganz. Ein wenig Zeit war auch für ihn vergangen. So viel eben, bis er den Schatz fand, an dem er mich auch Anteil haben lassen wollte. Nur dass meine Neigung, meine Spuren an den Orten zu verwischen, die ich hinter mir zurückließ, ihm und mir einen Strich durch die Rechnung machte.«
»Was für einen Schatz hat er gefunden - der euch die Unsterblichkeit schenkte?«, fragte Zamorra. Denn genau das schien ihm die Kernfrage zu sein. »Wie erging es ihm und den Kindern überhaupt? Es gibt über den Kinderkreuzzug kaum überliefertes verlässliches Wissen. Ein paar Chronisten, ein paar Stadtschreiber, die ihn erwähnen, aber…«
Nele nickte. »Sie ereilte doch noch das Schicksal, das ich ihnen bei Adamo Rossi ersparen konnte - es war nur ein Aufschub. Die Herren Jerusalems ließen sich von den Fahnen und Kreuze tragenden Kindern nicht erweichen. Nikolaus entkam als Einziger, wie er mir berichtete. Und auch nur, weil er auch etwas in sich trug, das dem ähnelt, was in mir steckt. Auch er hatte die Gabe - wenn auch in anderer Form.«
»Er entkam«, sagte Zamorra, als die alte Frau in ihren Erinnerungen zu versinken drohte. »Und dann?«
»Und dann fand er das, was sein Leben endgültig veränderte.«
»Und was war das?«
Die Greisin streifte sich die Kette über den Kopf und reichte sie Zamorra. Er griff danach. Nicole rückte näher zu ihm, um besser sehen zu können.
»Was ist das, was da im Bernstein steckt?«, fragte sie.
»Samen«, erwiderte Nele.
»Samen?«
»Samen einer Frucht, die ich vor Jahrhunderten aß. Sie sah aus wie ein Granatapfel. Die Schale war hart. Nikolaus hatte sie mir mitgebracht - und für mich aufgeschnitten. Er überredete mich, die Süße zu kosten, und ich konnte nicht widerstehen - heute wünschte ich manchmal, ich hätte es getan. Das hier…« Sie zeigte auf den Bernstein, oder das, was darin eingeschlossen war. »… ist alles, was davon übrig blieb. Ich behielt es als Andenken. Oder als Mahnung.«
Zamorra glaubte endgültig zu verstehen, was Nele Großkreutz ihnen mit der Kette sagen wollte. »Sie glauben demnach - die Frucht verlieh ihnen Unsterblichkeit?«
»Ich weiß es sicher. Weil ich weiß, woher sie stammte.«
»Und woher?«, fragte Nicole offenbar immer noch arglos.
»Aus dem Paradies, das Nikolaus auf seiner Flucht vor den Sarazenen fand.«
»Er fand das Paradies?«
»Ich meine den Garten Eden«, sagte die uralte Frau. »Den Ort, aus dem laut Bibel Gott einst uns Menschen vertrieb.«
***
Es war die haarsträubendste Geschichte, die Zamorra jemals gehört hatte. Aber vor ihm saß eine Frau, die das, was sie erzählte, glaubte .
Ein Geräusch ließ Nicole zusammenzucken. Es kam aus den Tiefen des Hauses, aus Keller oder
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