0953 - Der Fluch von Eden
Monate später
»Da ist es.« Nicole Duval tippte gegen die Scheibe des Landrovers. Es war dunkel und regnete leicht. Während der Fahrt hatte das Scheibenwischer-Intervall alle paar Sekunden für klare Sicht sorgen müssen.
Die Jugendstilvilla, zu der das Navi sie geführt hatte, markierte das Ende einer Sackgasse. Der Wendeplatz davor diente an den markierten Stellen auch als Parkfläche. Außer dem Rover waren hier nur noch ein Renault-Kombi, ein Toyota-Yaris und ein uralter 2CV-Kastenwagen abgestellt. Die Ente hatte nicht einmal mehr Nummernschilder und erweckte nicht den Eindruck, als wäre sie in den letzten Jahren bewegt worden. Offenbar rostete sie gemütlich vor sich hin.
Und auch das Haus hatte bessere Tage gesehen.
»Was für eine Absteige«, sagte Nicole und schien sich tiefer in ihrem Ledersitz verkriechen zu wollen. Das Navi und die Scheinwerfer des Landrovers, deren Helligkeit bis ins Innere streute, waren die einzigen Lichtquellen weit und breit.
»Wie spät haben wir?«, fragte Zamorra, warf aber bereits selbst einen Blick auf das Armaturenbrett. Er konnte die Uhrzeit sowohl am Navi als auch auf dem Chronometer des Cockpits ablesen.
Kurz nach 22 Uhr.
Sie hatten früher eintreffen wollen, aber ein kilometerlanger Stau nach einem Lkw-Unfall hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zwar waren sie bei der nächsten Möglichkeit auf die Rue Nationale ausgewichen, doch waren auch schon andere auf diese Idee gekommen. Viele andere.
Von Stau zu Stau , dachte Zamorra, doch dabei lächelte er. Sie hatten unterwegs viel miteinander gesprochen, Nicole und er, und irgendwie kehrte allmählich die alte, so lange vermisste Vertrautheit zwischen ihnen wieder zurück.
Er wertete das nach der langen Trennung als gutes Omen für ihre Zukunft.
Zamorra wandte sich der Gegenwart zu. Der Pension, vor der sie angekommen waren, und in der sie - angeblich - erwartet wurden.
Nein, nicht ›angeblich‹. Er ging sicher davon aus. Die Frage war nur, ob ihnen eine Falle gestellt worden war, oder ob die Person, die um ihr Erscheinen gebeten hatte, wirklich ihre Hilfe benötigte. Eine alte Frau, der Stimme nach zu urteilen, war hier abgestiegen.
Zamorra war das Risiko - für sich und für Nicole - aus einem einzigen Grund eingegangen: Die unbekannte Frau hatte ihm an der Strippe von London erzählt. Von einem ganz bestimmten London.
Seine Neugier hatte gesiegt.
Vor ihrem Aufbruch aus Château de Montage hatte er Nicole ins Bild gesetzt. Auch sie hatte schlichtweg vergessen, wovon er sprach. Und nicht einmal Zamorras Schilderung der damaligen Ereignisse hatte die Erinnerung daran zurückgebracht.
Aber dort, in der dunklen, abgeschiedenen Pension, wartete jemand auf ihn, der behauptete - und dies auch bereits belegt hatte -, sich erinnern zu können .
An ein Ereignis, das aus dem Gedächtnis eines jeden Menschen auf Erden hätte gelöscht sein sollen - ausgenommen Zamorra selbst.
Aber wie konnte dann eine alte Frau am Telefon davon sprechen, dass die britische Metropole um Haaresbreite der größten Katastrophe ihrer Geschichte entgangen war - als die Zeit in der Millionenstadt entartete?
***
»Scheinen alle schon in den Federn zu liegen«, sagte Nicole, als sie den Eingang der Pension erreichten.
Zamorra hatte eine Taschenlampe gezückt, wie man sie in vielen amerikanischen Kriminalfilmen zu sehen bekam - nur mittelfingerdick produzierte sie einen beachtlichen Lichtkegel -, der nun über die Messingplatte glitt, in die ein Klingelknopf integriert war.
Bevor Zamorra den Knopf drückte, vergewisserte er sich, dass die Tür auch wirklich verschlossen war.
Sie war es.
»Komisch, ja«, kommentierte er Nicoles Bemerkung. Dann pflanzte er die Daumenkuppe auf den Klingelknopf.
Hier draußen war nichts zu hören.
»Vielleicht funktioniert sie nicht«, sagte Nicole.
»Vielleicht ist sie während der Nachtruhe so geschaltet, dass nur der Nachtportier es hören kann.«
»Erwartest du nicht ein bisschen viel von…« Nicole rümpfte die Nase. »… so einem Laden?«
Er zuckte mit den Achseln, betätigte dann die Klingel erneut.
Wieder keine Reaktion.
»Du hast doch die Telefonnummer«, sagte Nicole.
Sie hatten mehrfach versucht, von unterwegs ihre verspätete Ankunft zu avisieren, aber auch da war keine Verbindung zustande gekommen. Was aber nicht an einem zu schwachen Netz gelegen hatte. Es war ständig besetzt gewesen.
Zamorra fischte sein Handy aus der Anzugtasche. Er brauchte nur die
Weitere Kostenlose Bücher