0962 - Der Leichenflur
Mund aus. Der üble Geschmack verschwand. Noch einmal kühlte er sein Gesicht. Als er hochkam und im fast blinden Spiegel über dem Becken trotzdem seine Platzwunde erkannte, überkam ihn wieder die Wut. Er nahm sich vor, mit den beiden besonders hart abzurechnen, und dieses wilde Vorhaben ließ den kalten Schweiß auf seinen Handflächen entstehen. Die würden sich wundern!
Mit diesem Gedanken griff er nach seinem Hemd und streifte es über. Es hatte noch im Bad auf dem Deckel der Kloschüssel gelegen.
Raver tanzte nicht mehr. Er hielt den Kopfhörer in der rechten Hand und schwang ihn hin und her. Mit den Gedanken war er noch immer in seiner Musik verhaftet. Er starrte Steve an wie einen Fremden.
Cochran drückte seine Haare zurück. »Es ist soweit, Raver, ich verschwinde jetzt.«
»Klar.«
»Du weißt noch alles?«
Der Knabe mit dem Ziegenbart und dem Vogelnest als Haarschmuck grinste dümmlich. »Das meiste habe ich behalten. Gib es ihr, und mach den Neuen fertig.«
»Werde ich schon, keine Sorge.« Cochran hob die Arme an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Damit«, erklärte er, »damit nehme ich die beiden auseinander.«
»Super.«
Bevor Cochran das Zimmer verließ, schaute er noch nach draußen und war zufrieden.
Zwar hatte die Nacht den Tag noch nicht abgelöst, aber die Dämmerung spendete bereits viel Schatten. Um diese Zeit war es im Haus ruhig. Wer am Abend losgehen wollte, der war schon weg. Ansonsten hockten die Mieter vor der Glotze oder soffen sich einen an.
Ein letztes Nicken, dann ging Cochran auf die Tür zu. Er war sehr vorsichtig, schaute in den Flur, fixierte Ginnys Tür und grinste dann, als er daran dachte, daß auch sie an diesem Abend bestimmt keinen Freier in die Bude holen würde.
Cochran schloß die Tür leise hinter sich. Bis zum ersten Ziel brauchte er wirklich nicht weit zu gehen, aber er ließ sich Zeit. Zudem wollte er zunächst an der Tür horchen, um eventuell herauszufinden, was Ginny tat. Hinein in ihre Wohnung würde er immer kommen. Schließlich besaß er einen Nachschlüssel.
Er kannte den Flur, und er mochte ihn nicht. Steve Cochran kam diese Strecke immer so vor wie der letzte Weg im Leben eines Schwerverbrechers, der zum elektrischen Stuhl. Sehr oft hatte er diesen Korridor durchschritten. Er haßte ihn, obwohl er jede Holzbohle so gut kannte, daß er ihr schon einen Namen hätte geben können. Er wußte auch, welche besonders laut knarrte, wenn sie sein Gewicht spürt.
Auch die Tür des Neuen sah er. Sein Blutdruck stieg, als er an diesen Scheißkerl dachte. Der würde an die folgenden Stunden noch lange zurückdenken, das wußte Steve schon jetzt.
Einen Schritt vor den anderen setzte er und bewegte sich wie ein Fremder. Er tastete die Bohlen unter sich ab, belastete sie zuerst mit einem Teil seines Gewichts, bevor er weiterging.
So kam er weiter, den Blick auf Ginnys Zimmertür gerichtet. Der Mund war zu einem kalten Grinsen verzogen, die Augen zu Schlitzen verengt.
Er hörte noch nichts und konnte sich vorstellen, daß Ginny im Bett lag und schlief.
Um so besser für ihn.
Der nächste Schritt.
Etwas war anders.
Steve Cochran merkte es in dem Augenblick, als sein rechter Fuß den Bodenbelag berührte. Da spürte er nicht mehr die gleiche Härte, sie war einfach verschwunden und hatte einem schwammigen Gegendruck Platz schaffen müssen.
Cochran begriff das nicht.
Er blieb auf der Stelle stehen und schüttelte den Kopf. Es war verrückt, nicht erklärbar. Das Holz hatte immer gehalten. Aber jetzt kam es ihm vor, als wäre es dabei, sich aufzulösen.
Er schaute nach unten.
Da hörte er die Stimme.
Oder waren es mehrere?
Ein böses Flüstern, ein geheimnisvolles Wispern, eine unheimlich klingende Warnung, die einen kalten Schauer auf seinem Körper hinterließ.
Plötzlich klopfte sein Herz schneller. Cochran traute sich nicht, den Kopf anzuheben. In der gebückten Haltung blieb er stehen. Er schaute zu Boden und weiter in den Flur hinein, und er sah, daß sich dicht unter den Bohlen - oder darüber hinweg? - etwas bewegte.
Es schwamm auf ihn zu.
Die Stimmen blieben. Lauter sogar und trotzdem leise. Sie malträtierten seine Ohren, und von der linken Seite her hörte er plötzlich ein Kichern.
Cochran drehte den Kopf.
Was er sah, war unglaublich und ließ ihn beinahe an seinem eigenen Verstand zweifeln.
Aus der Wand hatte sich ein Schädel gelöst. Das heißt, nicht ganz, er hing noch fest, wirkte aber wie abgeknickt, denn seine
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