0962 - Der Leichenflur
erstenmal sah. Irgendwie lief bei Ihnen alles anders ab, als bei den anderen Mietern.«
»Wie denn?«
»Es ging so plötzlich. Gestern noch war die Wohnung nicht belegt, und heute leben Sie darin.«
»Das ist doch nicht tragisch - oder?«
»Nein, nein, nein. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin ja froh, daß Sie hier wohnen wollen, aber ungewöhnlich ist das - sind Sie schon.«
»So, meinen Sie das?«
»Ja, ich glaube das.« Sie fing jetzt an zu lächeln. »Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Sie nicht derjenige sind, als der Sie sich ausgeben.«
Ich ließ mir nichts anmerken, aber Lisa war schon eine schlaue Person, und in meinem Kopf klingelten bereits leise die Alarmglocken. Meine Identität wollte ich auf keinen Fall lüften. »Moment«, sagte ich deshalb, »das müssen wir gleich klarstellen.« Ich griff in meine Innentasche und holte meinen Ausweis hervor, den ich auf den Tisch legte. »Schauen Sie ruhig nach.«
Lisa Fox las den Text, hob die Schultern und meinte, als ich den Ausweis wieder wegsteckte: »Das ist schon okay. Der ist echt.«
»Dann können Sie ja zufrieden sein.«
Sie winkte ab. »Nicht so ganz, denn mein Gefühl ist es nicht.«
»Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Nichts, John, nichts.«
»Na bitte.«
»Sie sind also derjenige, für den Sie sich ausgeben. Sie haben eine Wohnung gesucht und sie endlich gefunden…«
»Natürlich.«
Lisas Gesicht zeigte einen Ausdruck, der mir bewies, daß sie die Antwort nicht glaubte. »Und genau da fange ich an zu zweifeln. Das könnte auch anders sein.«
»Nein, warum denn?«
Lisa hob die rechte Hand. Vier Finger zeigte sie mir. »Es sind vier Menschen in diesem Haus getötet worden. Alle im selben Zimmer. Die Polizei hat den Mörder nicht gefunden, sie hat nicht mal etwas feststellen können.«
»Eben.«
»Ja, das ist das Problem. Nicht mit normalen Methoden, aber wenn es so nicht klappt, dann greift man eben zu etwas anderem. Sie verstehen, John?«
Ich atmete durch die Nase ein. »Ja, ich fange an, Sie zu begreifen, Lisa. Sie halten mich also für einen Polizisten, der in geheimer Mission unterwegs ist.«
»Nein, nicht unbedingt für einen Bullen. Ich denke da eher an einen Privatdetektiv.«
»Nein«, erklärte ich.
»Wirklich nicht?« Sie zweifelte noch immer.
»Sie können es mir glauben.«
Da schüttelte die Frau den Kopf. »Glauben oder nicht, John, ich habe es mir abgewöhnt, etwas zu glauben, denn das heißt nicht wissen. Ich verlasse mich da mehr auf mich selbst.« Sie streckte den Arm aus, um mich anzufassen. Die Bewegung fiel etwas zu hektisch aus, und mit dem Ellbogen stieß sie gegen das Weinglas. Es kippte um, fiel zu Boden und zerbrach. Der Inhalt versickerte im Teppich, wo er einen Fleck hinterließ, der beinahe so aussah wie Blut.
»Bin ich ungeschickt!« beschwerte sich die Frau. Sie wollte sich bücken, um die Scherben aufzuheben, aber ich war schneller. Von meinem Stuhl aus griff ich nach den Resten. Das Glas war praktisch nur in drei Teile zerbrochen, die ich auf meinen linken Handteller legte, um sie anschließend auf dem Tisch zu drapieren.
Lisa Fox war aufgestanden und zu der Küchenzeile gegangen. Sie kehrte mit einem kleinen Salztopf zurück und verstreute die Kristalle auf dem Blutfleck. Dabei bückte sie sich. Ich konnte erkennen, daß sie unter dem Kleid, zumindest in der oberen Hälfte, nichts trug.
»So, das müßte reichen«, sagte sie und rieb ihre Handflächen am Saum der Decke ab. »Seien Sie doch so nett und schenken Sie mir noch einen Schluck ein.«
Ich griff nach der Flasche und tat ihr den Gefallen. Lisa hob das Glas.
Sie hatte sich einen besonderen Trinkspruch für mich aufgehoben. »Auf einen rätselhaften Mann…«
Ich konterte. »Auf eine nette Frau.«
»Danke.«
Wir tranken. Der Wein schmeckte mir noch immer, aber nicht so gut wie beim ersten Schluck. Ich stellte das Glas ab und dachte darüber nach.
Dabei schaute ich Lisa an.
Irrte ich mich, oder blickte sie mit einer besonderen Spannung zurück?
Ihr Gesicht war noch dasselbe, aber es hatte sich trotzdem irgendwie veränderte, denn die Augen kamen mir größer vor. Ich wollte sie darauf ansprechen, nur fiel es mir schwer, Worte zu finden, und ich bekam auch meine Stimme nicht richtig unter Kontrolle. Irgend etwas war da nicht mehr in Ordnung.
»Was ist denn, John?«
Eine simple Frage. Nur wenige Worte. Sie aber hallten in meinem Kopf nach wie Donnerschläge.
Verdammt, sie hatte mich reingelegt. Sie mußte etwas in
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