0973 - Der verhexte Blutwald
Spiegelbild ihrer Zeit. In ihnen steckten die Träume und Sehnsüchte der Epoche, in der sie entstehen. Die meisten stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Die Romantik schlug sich in diesen Geschichten nieder. Träume von guten und bösen Menschen, und die Guten blieben immer die Sieger.
»Und ich bin auch ein Märchen«, flüsterte sie. »Ich habe mir einen Traum erfüllt. Ich bin zu einem Märchen geworden. Es ist einfach wunderbar. Ich lebe als Märchenfigur in der normalen Welt, die aber trotzdem voller Überraschungen steckt.«
Greta fühlte sich so frei und so wunderbar. Die frische Luft wehte ihr entgegen, und Greta öffnete weit den Mund, um sie einzuatmen. Sie wollte der Seele Balsam geben. Es geschah auch, denn jetzt, wo sie allein war und durch niemanden mehr gestört werden konnte, würde das geschehen, was ihr Leben so wunderbar machte und es auch von dem der übrigen Menschen abhob, die sich mit dem gleichen Schicksal herumschlugen wie sie.
Sie blieb unbeweglich auf ihrem Rollstuhl sitzen. Es war keiner dieser modernen Stühle, die durch einen Batteriebetrieb liefen, diesen hier mußte sie noch mit den Händen bewegen, und sie hatte sich im Laufe der letzten beiden Jahre eine gute Technik angewöhnt. Sie konnte mit ihm umgehen wie jemand, der schon seit seiner Kindheit im Rollstuhl saß, aber das war jetzt nicht wichtig, denn sie wußte, daß ihre Zeit kam und sie wieder so werden würde wie früher.
Ihr Herz schlug schneller. Sie hörte die Echos. Sie zuckte auch zusammen. Mit jedem Schlag, den sie so überdeutlich mitbekam, veränderte sich etwas vom Wald her.
Dort lag die Botschaft, die einzig und allein für Greta Kinny bestimmt war.
»Ja«, hauchte sie, »ja, kommt. Ich bitte euch. Kommt! Laßt mich nicht im Stich…«
Greta sprach keinen Namen aus, aber sie wußte genau, daß damit die alten Götter gemeint waren.
Der Wald stand vor ihr wie ein alter Freund. Der Wind spielte mit den Zweigen. Oberhalb, wo das Geäst der Bäume ein regelrechtes Geflecht bildete, sah sie noch die hellen Flecken des Himmels, in denen sich auch ein blasser, abnehmender Mond abzeichnete.
Auch der Mond war ihr Freund. Ein Stück Natur, ein Teil des unermeßlichen Alls, wie auch die unzähligen Sterne, Sonnen und Galaxien. Alles gehörte zusammen. Alles floß ineinander. Alles stand mit allem in Verbindung. Es war einfach etwas Wunderbares, wenn es nicht durch. Menschenhand zerstört wurde.
Plötzlich stöhnte sie auf.
Greta Kinny hatte einen regelrechten Schub erhalten. Vom Waldrand her hatte er sie erreicht. Sie merkte, wie sich ihr Blut erwärmte. Es wurde nicht heiß, sie schwitzte auch nicht. Es schien sich nur auszudehnen und deshalb so warm durch ihre Adern zu rinnen.
Sie lächelte.
Die Hände umkrampften noch immer die beiden Lehnen, die auch gleichzeitig als Stütze dienten.
Sie stemmte sich ab.
Und Greta stand auf.
Aus ihrem Mund löste sich ein Schrei der Freude!
***
Ich stehe! schoß es ihr durch den Kopf. Himmel, ich habe es wieder einmal geschafft.
Sie kannte dieses Phänomen, aber es dauerte immer wieder eine Weile, bis sie es selbst glaubte. Keine fremde Person kannte ihr Geheimnis, selbst Ginette gegenüber hatte sie geschwiegen, denn das ging einzig und allein nur sie selbst etwas an.
Greta schloß die Augen und legte den Kopf zurück, als wollte sie die Nacht besonders genießen und alles in sich aufsaugen, was sich in der blauen, tintigen Dunkelheit versteckt hielt.
Die junge Frau trug das lange Kleid, das ihrem Namen alle Ehre machte.
Rosenrot - so wollte sie genannt werden, und der Stoff des Kleides schimmerte ebenfalls in einem weichen Rot. Es war heller als menschliches Blut und bestand aus einem besonderen Stoff, der einen leichten Glanz abgab.
Das Kleid wie eine Blüte, deren Kelch unten offen war. Das hatte auch so sein sollen, nur so fühlte sie Greta besonders wohl. Sie hatte die erste Überraschung weggesteckt, senkte wieder den Kopf und schaute auf ihre Füße.
Die Schuhe paßten nicht zum Kleid. Sie waren derb, reichten bis zu den Knöcheln, bestens für Waldwanderungen geeignet. Ginette zog ihr diese Schuhe am Abend immer an. Sie hatte sich natürlich darüber gewundert, auch gefragt, aber so gut wie keine Antworten erhalten, die einleuchtend gewesen wären.
»Ich gehe einfach meinem Gefühl nach«, hatte Greta immer wieder betont. »Ich muß den Eindruck haben, normal gehen zu können. Da kommen mir diese Schuhe gerade recht.«
Das hatte auch Ginette
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