0995 - Die Rache der Toten
Was tun?
Daß sie nicht in den nächsten Minuten still neben dem Sarg sitzen bleiben konnte, stand für sie fest, doch sie wußte im Moment noch nicht, was sie unternehmen sollte.
Zu sehen war nichts.
Auch nicht zu hören.
Diese wahrhaftige Totenstille lag nicht nur wie ein dickes Paket über dem Friedhof, sondern auch über der gesamten Umgebung, wobei sie ebenfalls das Altenhotel mit einschloß, den Ort, an dem eigentlich alles begonnen hatte.
In ihrer Nähe bewegte sich nichts. Kein Tier, das über den Boden huschte und sich dabei im dichten Gras versteckte. Keine Vogelstimme war zu hören, überhaupt kein Wesen, und dabei war es doch auch während der Nachtstunden in einem Wald nie ruhig.
Der Wald grenzte an den kleinen Dorffriedhof. Er wuchs dort wie ein unheimlicher Beschützer, der dafür sorgte, daß die Ruhe der Toten nicht gestört wurde.
Diese Ordnung stimmte nicht mehr. Hier war nicht alles tot. Auch nicht alles, was sich in der Erde verbarg. Die Umgebung des kleinen Ortes Shortgate erlebte einen schleichenden Alptraum, der sich immer stärker aus dem Nebel des Vergessens hervorschälte.
Sarah Goldwyn wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als sie sich wieder bewegte. Die alten Knochen taten ihr weh. Dieses Hocken neben dem Sarg war einfach nicht ihr Fall, und sie lauschte ihrem eigenen Atem, als sie sich am Sargdeckel abstützte, um ihren Körper in die Höhe zu drücken.
Sie ärgerte sich selbst über die schwankenden Bewegungen, die sie durch ein Ausbreiten der Arme ausglich. Sie stand jetzt, und niemand hatte sie daran gehindert.
Ihr Blick fiel auf den Sargdeckel. Die Totenkiste mußte erst vor kurzem an diesen Platz gestellt worden sein, denn sie sah so aus, als wäre sie frisch aus dem Verkaufsraum eines Händlers gekommen. Das lackierte Holz war blank poliert.
Durch die Nase atmete die Horror-Oma ein. Selten hatte sie das Alleinsein so stark empfunden wie in diesen Minuten. Ellen, die Frau, die ihr vom Dorf her den Weg zum Friedhof gezeigt hatte, war längst wieder zurückgegangen und hatte die ältere Frau allein zurückgelassen.
Wenn der Sarg noch nicht so lange hier steht, dachte Sarah, dann muß ihn jemand vor kurzem hier abgestellt haben, und sie fragte sich natürlich, wer es getan haben konnte.
Die Lösung war einfach, auch wenn ihr die Beweise fehlten. Es konnten nur Leute gewesen sein, die unmittelbar mit dem Altenheim zu tun hatten. Und da gab es vor allen Dingen eine Leiterin oder Chefin, die Gwendolvn Ash hieß. Das Weib, kalt und wie Packeis. Abgebrüht bis in den letzten Knochen. Eine Frau, die genau wußte, was sie zu tun hatte.
Sie würde diesen Weg auf jeden Fall weitergehen, aweh über Leichen.
Der Sarg hier, das Altenhotel, das Dorf und auch deren Bewohner. Sie alle bildeten die Verstrickungen innerhalb eines fein gesponnenen Netzes, in dem Sarah Goldwyn durch ihre eigenen Schuld, bedingt durch Neugier, gefangen hatte.
Sie hatte es ihren Freunden wieder einmal beweisen wollen und war den Weg allein gegangen. Praktisch ohne Rückendeckung hatte sie ihrem alten Freund Albert Sackett helfen wollen, was ihr aber bisher nicht gelungen war. Man hatte sie nicht mal zu ihm gelassen. Der Mann lebte in diesem Altenhotel, angeblich war er krank, was Sarah aber nicht glaubte. Was sollte, was konnte sie tun? Den Inhalt des Briefs, den ihr Albert geschickt hatte, hatte sie nicht vergessen. Ein einziger Hilfeschrei. Und sie wußte jetzt, daß sich der Mann nicht geirrt hatte. Hier ging etwas Unheimliches vor, und das Klopfen im Sarg hatte diese Annahme nur bestätigt.
Noch immer starrte sie auf den Sarg und fragte sich jetzt, warum sich dieses Geräusch nicht wiederholte. Es durfte nicht mit einemmal enden.
Das hätte allem widersprochen, an das sie bisher geglaubt hatte.
Das Klopfen war nicht schwach gewesen, sondern laut, fordernd, als hätte die Person, die im Sarg hauste, unbedingt befreit werden wollen.
Sarah dachte daran, wie überrascht sie beim Anblick des Sargs gewesen war. Aber sie hatte die Überraschung bald überwunden und den Plan gefaßt, den Sarg zu öffnen. Sie hatte kurz davor gestanden, als das Klopfen ertönt war, und jetzt kam sie sich noch immer wie gefangen vor.
Weglaufen?
Viele hätten es getan, aber Sarah hatte nun mal in den sauren Apfel gebissen, und sie gehörte zu den Typen, die das Obst auch aufaßen. Ihre Stirn legte sich in Falten. Der Schock war verschwunden, nur noch eine natürliche Furcht vor den Ingredenzien des Todes war bei ihr
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