Elfenzeit 11: Merlins Erwachen - Hartmann, C: Elfenzeit 11: Merlins Erwachen
1 Eleanor
Anfang Januar 1064 n. Chr., Le Mont-Saint-Michel
.
Schweißgebadet erwachte Eleanor aus ihrem Albtraum.
Für einen Moment blieb sie regungslos auf ihrem Strohlager liegen und lauschte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit hinein. Der Morgen war noch weit entfernt, das erkannte sie an dem fernen Klang der Glocke, die der diensthabende Mönch oben im Kloster gerade läutete. Ein, zwei, drei Schläge hallten in die kalte Luft über dem Mont-Saint-Michel und riefen die Mönche zur
Laudes
, jener nächtlichen Messe, die bis zum Sonnenaufgang dauern würde.
Eleanor seufzte und drehte sich auf die andere Seite.
Die Mönche würden die nächste Stunde singend und betend verbringen, sie hingegen konnte noch ein bisschen weiterschlafen.
Doch es fiel ihr schwer, wieder einzuschlafen.
Seit der Wintersonnenwende träumte sie schlecht. Jede einzelne Nacht fuhr sie aus dem Schlaf auf, mit rasendem Herzen und einem eigenartigen, kribbeligen Gefühl im Magen, das sich von dort tiefer zog, bis hinunter zu jenen Regionen, über die man nicht sprechen durfte. Eleanor schob ihre Hand unter die raue Wolldecke und legte sie auf ihren flachen Bauch. Die Finger waren eiskalt, und ein Schauder rann über ihre Haut, als sie die Hand ein wenig tiefer wandern ließ.
In diesem Moment ging draußen auf der engen Gasse jemand vorbei – ein Pilger wahrscheinlich, der
Le Mont
besucht hatte und in aller Frühe zurück nach Hause wollte. Der Schein seiner Laterne fiel durch einen Spalt in Eleanors Fensterladen und ließ ein grünes Augenpaar aufblitzen.
»Odo!« Eleanor zuckte zusammen. »Du kleines Biest! Wer hat dir erlaubt, dich heimlich in meine Kammer zu schleichen?«
Der fremde Pilger ging weiter, sein Licht verlosch, und die Dunkelheit füllte die Kammer erneut. Eleanor griff nach Zunder und Feuerstein und entzündete ein kleines Talglicht, das auf der Truhe neben ihrem Bett stand. Die Flamme flackerte kurz und drohte wieder zu verlöschen, doch dann brannte sie gleichmäßig und vertrieb mit ihrem rötlichen Schein die Finsternis.
Odo lebte in ihrem Haus, seit sie denken konnte. Der dicke, gestreifte Kater legte den Kopf schief, als mustere er jene Stelle ihres Unterleibes, an dem eben noch Eleanors Hand gelegen hatte.
»Ich habe nur …« Sie verstummte, denn es gab keine Worte für das Unaussprechliche, das sie beinahe getan hätte. Rasch schlug sie ein Kreuz über sich und murmelte: »Vergib mir, Herr! Ich bin eine Sünderin.«
Du bist alles andere als das!
Die Stimme war so klar und deutlich zu hören, als wäre noch jemand bei ihr im Raum. Eleanor erstarrte. »Wer … ist da?« Ängstlich sah sie sich in der kleinen Kammer um. Im Licht der Lampe schienen Odos Augen wie von innen heraus zu leuchten.
Leg dich wieder hin!
, fuhr die unheimliche Stimme sie an. Eleanor war sich sicher, dass sie aus der Richtung kam, in der der Kater hockte.
»Aber …«
Leg dich wieder hin!
Der Befehl klang nicht streng, duldete aber dennoch keinen Widerspruch.
Langsam ließ Eleanor sich zurück auf ihr aus bunten Stofffetzen genähtes Kopfkissen sinken. »Was …«
Hör auf zu reden. Schlaf jetzt. Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen
.
»Aber ich bin überhaupt nicht m…«
Du bist ein widerspenstiges kleines Ding, Eleanor! Dennoch wirst du jetzt schlafen!
Plötzlich überkam Eleanor unendliche Müdigkeit, als würde eine fremde Macht nach ihrem Geist greifen. Sie kämpfte dagegen an und riss die Augen in dem verzweifelten Versuch auf, sie offen zu halten. Aber es war vergebens. Langsam sanken ihre Lider nach unten.
Das Letzte, was sie sah, war ihr Kater, der sich im Licht der Lampe langsam erhob und auf sie zukam. Das Letzte, was sie spürte, bevor sie in die Tiefen eines schweren Schlafes glitt, war das Gewicht, das sich plötzlich auf ihre Brust senkte und ihr den Atem zu nehmen drohte.
Sie erkannte nicht mehr, wie Odo auf ihren Leib sprang und sich dort mit um die Vorderpfoten geringeltem Schwanz niederließ. Der Blick seiner grünen Augen war fest auf ihr schlafendes Gesicht gerichtet.
Und dann begann sie erneut zu träumen.
Sie befand sich in einem Wald
.
Und sie war allein. Rings um sie nichts als Stille. Kein Vogel sang in den Bäumen, obwohl Sonnenlicht in breiten Bahnen durch das grüne Laub fiel und ein sanfter, frühlingshafter Wind die Blätter rascheln ließ. Keine Maus huschte durch das knöcheltief liegende Laub zu ihren Füßen, keine einzige Biene oder Fliege, kein Schmetterling zeigte
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