1. Die Connor Boys: Komm ich zeig dir wie man liebt
zuredete. Lief der Motor erst einmal, mussten natürlich die Fenster vom Eis freigekratzt werden.
Sie machte sich eine Menge Mühe für einen Mann, der so freund lich gewesen war wie ein in die Ecke getriebenes Stinktier. Jedenfalls so viel Mühe, dass sie an ihrem Verstand zweifeln musste. Ihre Finger waren halb erfroren, als sie sich schließlich in den Wagen setzte und losfuhr. Keine Menschenseele war unterwegs. Wenig erstaunlich. Alle anderen waren an Thanksgiving so vernünftig und blieben zu Hause bei ihren Familien, wo es warm, gemütlich und sicher war.
Sie besah sich im Rückspiegel. Vergangene Woche war sie beim Friseur gewesen und hatte sich einen neuen Schnitt mit Dauerwelle verpassen lassen. Die Friseuse hatte sie dazu überredet. Hinterher musste Kirstin sich fragen, ob sie der Frau etwas Böses angetan hatte.
Wenigstens wurde der blaue Fleck auf ihrer Wange allmählich blasser - sie war einfach gegen eine Tür gelaufen, weiter nichts. Doch abgesehen von den schrecklich albernen Löckchen und dem Flecken sah sie ganz normal aus. Blaue Augen, glatte Haut und dieselben vollen Lippen wie immer.
Kirstin hatte so eine dumpfe Ahnung, dass Gordon ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Außerdem war sie bei Dunkelheit nie allein unterwegs, und mit neunundzwanzig wusste sie natürlich
auch, dass sie sich nicht mit fremden Männern einlassen sollte - be sonders nicht mit Männern, die sie nervös machten. Trotzdem kehrte sie nicht um.
Es kam nicht oft vor, dass Kirstin sich von ihren Gefühlen leiten ließ, aber hin und wieder passierte ihr das schon. Alan war das beste Beispiel dafür. Ihr Mann war ruhig und zurückhaltend gewesen, hatte durchschnittlich gut ausgesehen und war so wenig Per sönlichkeit gewesen, dass keine der Frauen im Büro ihn sonderlich beachtet hätte. Als er sie zum Essen eingeladen hatte, hätte sie beinahe abgelehnt, weil sie überzeugt gewesen war, sie würden sich nur anschweigen. Doch sie hatte sich geirrt. Alan war leichter aus sich herausgekommen und einfühlsamer gewesen, als sie erwartet hatte.
Gordon Connor konnte sie jedoch nicht mit ihrem Mann vergleichen. Aber die Erfahrungen in der Ehe, im Leben und mit der Liebe hatten sie gelehrt, ihrem weiblichen Instinkt zu vertrauen. Manchmal musste eine Frau einfach ihrem Herzen folgen.
Als sie am Nachmittag das Haus betrat, war sie überzeugt gewesen, einen überarbeiteten
Mann vorzufinden. Beide Brüder, Seth und Michael, hatten sie morgens angerufen, weil sie nichts von Gordon gehört hätten, und wollten wissen, ob er gut angekommen sei. Kirstin hatte sich allerdings keine weiteren Gedanken über diese Anrufe gemacht... bis sie ihn dann sah.
Er sei überarbeitet und krank hatten seine Brüder gesagt. Aber das mochte sie nicht ganz glauben.
Es war sechs Jahre her, seit sie ihre Mutter verloren hatte. Und danach Alan vor knapp zwei Jahren. Die meisten Leute sahen sie als unverbesserliche Optimistin - im allgemeinen hatte sie ein Lächeln für jeden -, aber ihr Leben war kein Honigschlecken gewesen. Kirstin wusste, was Verlust bedeutete. Sie wusste, wie lähmend Trauer sein konnte. Sie wusste, wie es war, wenn man morgens aufwachte mit einer zentnerschweren Last auf dem Herzen und nicht zu atmen wagte, weil die Erinnerungen dann einen überfielen.
Diesen Schmerz hatte sie in Gordons Augen gesehen. Er rührte vielleicht nicht von Trauer her, aber von irgendeinem anderen Schicksalsschlag. Zuerst hatte sein Aussehen sie erschreckt. Mit der Lederjacke, dem Ohrring und dem wirren schwarzen Haar sah er aus wie das Mitglied einer Motorradgang, gefährlich, rücksichtslos und bestimmt nicht ihr Typ. Nach ein paar Minuten hatte sie nicht mehr interessiert, was für ein Typ er war, sondern nur noch diesen gehetzten, leeren Blick gesehen.
Sie fühlte sich zwar nicht verantwortlich für ihn, aber soviel sie wusste, hatte er keine Verwandten in Maine und niemanden, an den er sich sonst wenden konnte, falls er in Schwierigkeiten steckte. Und Kirstin war schon immer eine mitleidige Seele gewesen. So musste sie jedes weinende Kind trösten und konnte an keinem kranken Tier vorübergehen.
Bald darauf hielt sie wie am Nachmittag in der Einfahrt an, stellte den Motor ab, machte die Scheinwerfer aus und nahm den Teller an sich.
Kaum war sie ausgestiegen, begann ihr Herz zu klopfen, und ihre Hände schwitzten vor Angst.
So ein Unfug! Entschlossen straffte sie die Schultern. Es gab nichts, wovor sie sich hätte fürchten müssen.
Weitere Kostenlose Bücher