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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Augen über. Im Gehen nahm ich einen Schluck – der Wodka stank wie Kerosin und schmeckte noch schlimmer, die reinste Plörre, irgendwo heimlich zusammengepanscht – und rannte auf die Unterführung zu.
    »Hallo?«
    Larissa war schon nicht mehr da. Nachts schiebt in der Regel Pawel Dienst.
    »Anton hier. Hotel Kosmos, irgendwo in der Nähe, in einem der Höfe. Ich folge ihm.«
    »Eine Brigade?« In seiner Stimme schwang Interesse mit.
    »Ja. Ich habe das Amulett schon entladen.«
    »Was ist passiert?«
    Ein Obdachloser, der in der Mitte der Unterführung vor sich hin döste, streckte die Hand aus, als hoffe er, ich würde ihm die angenuckelte Pulle überlassen. Ich raste an ihm vorbei.
    »Da ist noch was anderes … Beeil dich, Pawel.«
    »Die Jungs sind schon unterwegs.«
    Plötzlich spürte ich im Kiefer einen Schmerz, als stieße jemand eine glühende Nadel in ihn hinein. Verdammte Scheiße aber auch …
    »Pascha, ich kann nicht mehr für das garantieren, was ich tu«, sagte ich noch rasch, bevor ich die Verbindung unterbrach. Und vor zwei Milizionären auf Streife stehen blieb.
    Ist doch immer dasselbe!
    Warum müssen die Ordnungshüter der Menschen immer im unpassenden Moment erscheinen?
    »Sergeant Kaminski«, rasselte der junge Milizionär herunter. »Ihre Papiere …«
    Was sie mir wohl anhängen wollen? Trunkenheit in der Öffentlichkeit? Vermutlich.
    Ich steckte die Hand in die Tasche und berührte das Amulett. Es strahlte kaum noch Wärme aus. Viel war hier jedoch auch nicht nötig.
    »Mich gibt’s nicht«, sagte ich.
    Zwei Augenpaare wanderten über mich, die schmackhafte Beute – bevor sie erloschen und das letzte Fünkchen Verständnis aus ihnen wich.
    »Es gibt Sie in der Tat nicht«, echoten sie im Chor.
    Die Zeit, sie richtig zu programmieren, fehlte mir. Deshalb platzte ich mit dem Erstbesten heraus, das mir in den Sinn kam: »Kauft euch einen Wodka und lasst es euch gut gehen. Sofort! Abmarsch!«
    Offensichtlich traf der Befehl auf fruchtbaren Boden. Indem sie sich wie zwei Jungen beim Spaziergang an den Händen fassten zogen die Milizionäre durch die Unterführung in Richtung der Kioske ab. Leichte Gewissensbisse befielen mich, als ich mir die Folgen meines Befehls ausmalte, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, noch etwas zu korrigieren.
    Aus der Unterführung stürmte ich in der sicheren Überzeugung, dass bereits alles zu spät war. Doch der Junge, so seltsam das auch sein mochte, war noch nicht sehr weit gekommen. Leicht schwankend stand er da, etwa hundert Meter vor mir. Was für eine Widerstandskraft! Der Ruf hallte mit einer solchen Kraft, dass ich mich fragte, warum die wenigen Fußgänger nicht anfingen, das Tanzbein zu schwingen, warum die Oberleitungsbusse nicht vom Prospekt abbogen, nicht in diesen Tordurchgang drängten, dem süßen Schicksal entgegen …
    Der Junge drehte sich um. Erblickte mich offenbar. Rasch ging er weiter.
    Das war’s, er kapitulierte.
    Während ich ihm folgte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Am klügsten wäre es, auf die Brigade zu warten – sie würde nur zehn Minuten brauchen, höchstens.
    Inzwischen konnte jedoch allerlei passieren, konnte dem Jungen allerlei passieren.
    Mitleid ist eine gefährliche Sache. Zum zweiten Mal fiel ich heute schon darauf rein. Erst in der Metro, als ich mein Amulett bei dem missglückten Versuch, den schwarzen Wirbel zu zerstören, entladen hatte. Und jetzt wieder, indem ich dem Jungen nachging.
    Vor vielen Jahren habe ich mal einen Satz gehört, dem ich nie zustimmen wollte. Bis heute habe ich das auch nicht getan, obwohl ich mich schon oft genug davon überzeugen musste, dass er wahr ist.
    Das Wohl der Allgemeinheit und das Wohl des Einzelnen gehen selten miteinander einher.
    Stimmt, das sehe ich ein. Das ist die Wahrheit.
    Aber gewiss gibt es eine Wahrheit, die schlimmer als die Lüge ist.
    Ich rannte dem Ruf entgegen. Wahrscheinlich vernahm ich ihn nicht auf die Weise wie der Junge. Für ihn fügten sich die Töne zu einem betörenden Flehen, einer bezaubernden Melodie, die ihm seinen Willen und seine Kraft raubte. Für mich war es das genaue Gegenteil: ein das Blut aufwühlender Alarm.
    Das Blut aufwühlend …
    Der Körper, mit dem ich eine Woche lang Schindluder getrieben hatte, streikte jetzt. Ich wollte etwas trinken, aber kein Wasser – obwohl ich ohne irgendeinen Schaden meinen Durst mit dem dreckigen Schnee der Stadt hätte stillen können. Und auch keinen Alkohol – da hätte ich nur zu dem

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