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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Prolog
    Langsam und ächzend kroch die Rolltreppe nach oben. Kein Wunder, so alt wie die Station war. Dafür fegte der Wind durch die ganze Betonröhre, zerzauste ihm das Haar, zerrte an der Kapuze, schlängelte sich unter den Schal und drückte Jegor nach unten.
    Der Wind wollte nicht, dass er hinauf fuhr.
    Der Wind bat ihn umzukehren.
    Sonderbar – anscheinend spürte niemand sonst den Wind. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, gegen Mitternacht wirkte die Metro-Station immer wie ausgestorben. Ein paar Leute kamen Jegor auf der anderen Rolltreppe entgegen, auf seiner fuhr außer ihm kaum noch jemand hinauf: ein Mann vor ihm, zwei oder drei Leute hinter ihm. Das war’s auch schon.
    Bis auf den Wind vielleicht.
    Jegor steckte die Hände in die Taschen und blickte über die Schulter zurück. Seit er vor zwei Minuten aus dem Zug gestiegen war, hatte er das Gefühl, ein fremder Blick ruhe auf ihm. Das jagte ihm jedoch keine Angst ein, sondern hatte eher etwas Hypnotisierendes, etwas Stechendes, als pike ihn jemand mit einer Spritze.
    Ganz unten auf der Rolltreppe stand ein großer Mann in Uniform. Kein Milizionär, sondern ein Soldat. Dann war da eine Frau mit einem Jungen an der Hand, dem ständig die Augen zufielen. Schließlich noch ein jüngerer Mann mit einem MD-Player, der eine grelle orangefarbene Jacke anhatte. Er schien ebenfalls im Stehen zu schlafen.
    Nichts Verdächtiges. Nicht einmal für einen kleinen Jungen, der reichlich spät nach Hause ging. Jegor schaute erneut nach oben. Dort stand ein Milizionär, der sich gegen das glänzende Absperrgitter lehnte und verdrossen nach leichter Beute unter den wenigen Fahrgästen Ausschau hielt.
    Nichts, wovor Jegor Angst haben müsste.
    Der Wind drückte ein letztes Mal gegen ihn und legte sich dann, so als gebe er Ruhe, als habe er eingesehen, dass sein Kampf aussichtslos war. Der Junge blickte noch einmal nach hinten und hastete dann die nach oben gleitenden Stufen hoch. Er musste sich beeilen. Warum, wusste er nicht, er musste es einfach. Da war auch wieder dieses komische und beunruhigende Piken, während über seinen Rücken ein eisiger Schauder lief.
    Ist doch bloß der Wind.
    Jegor stürzte durch die halb offene Tür hinaus. Die durchdringende Kälte schlug mit aller Wucht über ihm zusammen. Seine Haare waren nach dem Schwimmen noch nass – der Föhn hatte mal wieder nicht funktioniert – und gefroren im Handumdrehen. Jegor zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und lief, ohne an einer der Buden stehen zu bleiben, schnell auf die Unterführung zu. Obwohl auf der Straße viel mehr Menschen unterwegs waren, verließ ihn das mulmige Gefühl nicht. Deshalb drehte er sich im vollen Lauf sogar noch einmal um, doch niemand folgte ihm. Die Frau mit dem Kind ging zur Straßenbahnhaltestelle, der Mann mit dem MD-Player war an einer Bude stehen geblieben, um das Angebot an Flaschen zu studieren, der Soldat noch gar nicht aus dem Bahnhofsgebäude herausgekommen.
    Mit immer schnelleren Schritten ging der Junge durch die Unterführung. Von irgendwoher drang Musik an sein Ohr, eine leise, kaum wahrnehmbare, aber unglaublich schöne Musik. Die zarten Klänge einer Flöte, umschmeichelt von einer Gitarre, begleitet vom Klimpern eines Xylophons. Die Musik rief ihn, trieb ihn an. Jegor wich ein paar ausgelassenen Leuten aus, die ihm entgegengerannt kamen, und überholte einen leicht torkelnden, angeheiterten Mann. Jeder klare Gedanke schien sich aus seinem Kopf verflüchtigt zu haben. Er rannte jetzt fast.
    Die Musik rief ihn.
    Es mischten sich nun auch Worte hinein – noch zusammenhanglose, viel zu leise, aber sehr betörende Worte. Jegor spurtete aus der Unterführung, um dann kurz hechelnd in der kalten Luft stehen zu bleiben. Gerade kam der Oberleitungsbus. Wenn er eine Station fahren würde, wäre er fast zu Hause …
    Langsam, als seien ihm die Beine plötzlich eingeschlafen, ging der Junge auf den Obus zu. Der wartete ein paar Sekunden mit offenen Türen an der Haltestelle, dann schlossen sie sich, und der Bus fuhr ab. Während Jegor ihm mit leerem Blick nachsah, wurde die Musik immer lauter, bis sie den ganzen Raum zwischen dem Halbrund des vielstöckigen Hotels und der in der Nähe liegenden »Schachtel auf Beinen«, seinem Zuhause, ausfüllte. Die Musik lud ihn ein, zu Fuß zu gehen. Den hell erleuchteten Prospekt entlang, der selbst um diese Zeit noch recht belebt war. Überhaupt, bis zu seiner Haustür waren es ja nur fünf Minuten.
    Bis zur Musik noch

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