10 - Der Ölprinz
Platz. Dem Herzen war Genüge geschehen, still, ohne laute Worte und Ausrufe, doch mit nicht weniger Zärtlichkeit; nun aber mußte dem indianischen Stolz auch Rechnung getragen werden.
Schi-So ging zu seinem Vater und reichte ihm die Hand entgegen. Der Häuptling sah seinen Sohn kommen; er erblickte die jugendkräftige Gestalt, das frische Gesicht, die intelligenten Züge, die gewandten Bewegungen. Einen Augenblick lang, aber auch nur einen einzigen Augenblick, leuchteten seine Augen in stolzer Freude auf; dann war sein Gesicht wieder so unbeweglich wie vorher; er ergriff nicht die dargereichte Hand des Sohnes, sondern tat, als ob er ihn gar nicht sähe. Schi-So wendete sich um und setzte sich dann neben Adolf Wolf nieder. Es fiel ihm gar nicht ein, sich gekränkt zu fühlen. Er wußte, wie sehr sein Vater ihn liebte; er kannte die indianischen Anstandsregeln und bereute es, seinem Vater die Hand angeboten zu haben. Er hatte dies getan, weil er aus Europa kam; nach der Sitte seiner Heimat war es nicht erlaubt. Er war ein Knabe und durfte in Gegenwart von Männern nichts tun, was in der gegenwärtigen Lage nicht unbedingt nötig war.
Old Shatterhand hatte diese Szene mit einem Lächeln der Befriedigung betrachtet. Er wußte, daß in dieser Familie mehr Liebe und Glück wohnte, als in mancher vornehmen, weißen, deren Glieder in Gegenwart andrer sich Aufmerksamkeiten und Zärtlichkeiten erweisen, aber dann, wenn sie sich unbeobachtet wissen, einander wie Hund und Katze behandeln. Jetzt wurde er von dem Häuptling gefragt: „Mein Bruder Old Shatterhand war in unserm früheren Lager?“
„Nein. Wäre ich dort gewesen, so könnte ich jetzt noch nicht wieder hier sein. Aber der Ölprinz war mit Buttler und Poller dort?“
„Ja.“
„Ihr habt ihnen Waffen und Munition gegeben?“
„Ja.“
„Sie haben gesagt, sie seien mit uns geritten, mit uns von den Nijoras ergriffen worden, aber so glücklich gewesen, zu entkommen?“
„So ist es. Woher weiß mein Bruder dies alles? Hat er vielleicht mit diesen drei Mördern gesprochen?“
„Nein“, lächelte Old Shatterhand. „Was ich soeben sagte, vermutete ich. Diese Mörder brauchten Waffen; sie mußten also zu euch, denn weiter war niemand da, von dem sie welche erhalten konnten. Um euch gutwillig zu machen, mußten sie euch belügen und euch sagen, daß sie Begleiter und Beschützer von Schi-So gewesen seien. Das ist ja alles so selbstverständlich, daß ein jedes Kind es sich denken kann. Und selbst wenn ich Zeit gehabt hätte, so wäre es mir nicht eingefallen, nach eurem früheren Lagerplatz zu reiten, denn ich erfuhr gegen Abend, daß ihr ihn verlassen hattet.“
„Von wem?“
„Von meinen Augen.“
„Uff! So hast du uns gesehen?“
„Ja. Ich saß diesseits des Flusses auf einem hohen Baum, um nach den Nijoras auszuschauen, und sah euch am jenseitigen Ufer aufwärts gezogen kommen.“
„So haben die Nijoras uns vielleicht auch gesehen?“
„Nein.“
„Weißt du das genau?“
„Ja.“
„Von wem?“
„Von ihnen selbst. Sie haben es gesagt, und ich hörte es, denn ich habe sie belauscht. Schi-So war mit uns; er hielt die Pferde, während Winnetou und ich uns an die Feinde schlichen. Ich bin mit Schi-So zurückgekehrt, um meinen weißen Brüdern Nachricht zu geben und meine roten Brüder aufzusuchen; Winnetou aber blieb zurück, um die Feinde auch weiter zu beobachten. Ich bin sehr erfreut darüber, daß ich meinen Bruder Nitsas-Ini hier finde und die Krieger der Navajos nicht aufzusuchen brauche.“
„Auch ich freue mich sehr, meinen Bruder Shatterhand nach so langer Trennung wiederzusehen. Die Feinde werden morgen in unsre Hände fallen.“
„Das ist auch meine Ansicht, obgleich ich weiß, daß diejenige meines Bruders auf einer falschen Voraussetzung beruht.“
„Old Shatterhand irrt sich. Ich denke ganz dasselbe wie er.“
„Unmöglich.“
„Nein. Die Nijoras werden unsern Lagerplatz verlassen finden und unsern Spuren folgen.“
„Die Nijoras werden zunächst nicht nach euerm Lagerplatz reiten, sondern uns überfallen. Sie ahnen nicht, daß die Krieger der Navajos ihr Lager verlassen haben.“
„Uff! Meine weißen Brüder sollen überfallen werden?“
„Ja.“
„Wo?“
„Sie denken, daß wir ihnen folgen, um die Navajos aufzusuchen, und haben sich am Winterwasser festgesetzt, um uns dort ganz unerwartet einzuschließen.“
„Am Winterwasser? Dieser Plan ist sehr klug von ihnen ausgesonnen, denn es gibt keinen Platz,
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