Mit 11 erobert man die Welt
Ein echter Glückstag
„Autsch!“ schrie Katja wütend und ein bißchen lauter, als es eigentlich nötig war.
Tante Otti flocht ungerührt weiter an dem dicken Zopf, mit dem sie Katjas Mähne bändigte und der - wie sie meinte - die einzig angemessene Frisur war, mit der man ein Mädchen von gerade eben elf Jahren zur Schule gehen lassen konnte.
„Du bist aber auch zu empfindlich, mein Liebes. Aber das habt ihr Kinder wohl heute alle gemeinsam. Wenn ihr wüßtet, wie hart wir erzogen wurden! Gewiß war manches übertrieben. Aber es hat uns auch gelehrt,
Härten im Leben mit Gleichmut zu ertragen.“
„Amen!“ knurrte Katja, zum Glück so leise, daß Tante Otti es nicht verstand.
Außerdem wurde die jetzt von den Zwillingen abgelenkt. Markus und Fips nutzten die Gelegenheit, als sich Tante Otti so hingebungsvoll Katjas Frisur widmete, um sich großzügig aus der Dose Nesquick zu bedienen. In seltener Einmütigkeit schaufelten Katjas vierjährige Brüder das Pulver in ihre Milchbecher, bis die klebrige Flüssigkeit über den Rand lief und in kleinen Rinnsalen von der Tischkante auf ihre Jeans tropfte.
Wie meistens merkte es Celia als erste. Auf ihrem Gesicht erschien jener Ausdruck unverhohlener Schadenfreude, der von ahnungslosen Fremden leider allzuoft als „engelhaftes Lächeln“ mißdeutet wurde. Alles, was die sechsjährige Celia sagte, wirkte irgendwie engelhaft. Mal abgesehen von den Tagen, an denen sie schlechte Laune hatte. Jetzt setzte sie mit vollendeter Grazie ihre Tasse ab und sagte in einem Ton sanfter Liebenswürdigkeit: „Was macht ihr denn da schon wieder für eine sagenhafte Sauerei!“
Tante Otti fuhr herum. Vor Schreck fiel ihr der Kamm aus der Hand. „Philipp! Markus! Was fällt euch ein! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen! Eure Pullover, eure Hosen! Nein aber auch..., igitt! Und der ganze Tisch schwimmt! Jetzt muß ich euch für den Kindergarten noch mal umziehen! Marsch, ab ins
Bad! Und du hol einen Lappen, Celia!“
Katja war bereits an der Tür. „Ich muß gehn. Tschüs, bis heute mittag!“ Und schon war sie draußen. Während sie sich im Flur ihre Schulmappe griff, fuhr sie sich mit der Hand durch den halbfertigen Zopf. Zwei-, dreimal heftig den Kopf geschüttelt, und die Mähne hing, wie sie es liebte, locker um das Gesicht. Tante Otti würde keine Zeit haben, noch einmal aus dem Fenster zu sehen.
Drei Tage mußte sie das Monster noch aushalten, dann kamen Mami und Papi aus dem Urlaub zurück. Zwar würde die Tante nicht sofort abfahren. Aber ihr Interesse galt dann mehr den Reiseberichten der Erwachsenen, und sie mußte sich nicht mehr für den Haushalt und die Kinder verantwortlich fühlen. Mischte sie sich tatsächlich ein, konnte Mami das großartig auffangen und sie ablenken. An solchen Tagen, an denen Tante Otti, wie sie sagte, nur noch zu ihrem Vergnügen da war, konnte sie sogar manchmal richtig nett sein.
Es wäre ja auch alles nicht so schlimm gewesen, wenn Tante Otti es nicht ausgerechnet darauf abgesehen hätte, aus Katja das zu machen, was ihre jüngere Schwester Celia ihrer Meinung nach von Geburt an gewesen war: „ein entzückendes kleines Mädchen“. Katja war weder klein noch besonders hübsch. Man hätte sie eher für einen Jungen halten können, mit ihrem eckigen, mageren Körper und dem schlaksigen Gang. Sie trug im Gegensatz zu Celia nie etwas anderes als Turnschuhe, Jeans und Sweatshirts. Und wie die aussahen, war ihr ziemlich gleichgültig. Hauptsache sie waren bequem, und man konnte schnell damit laufen.
Daß Katjas Sachen trotzdem schick und originell waren, dafür sorgte Mami. Sie hatte auf der Kunstschule studiert und setzte nun ihr malerisches Können in witzige Bilder und Aufschriften auf den T-Shirts, Sweatshirts und Jacken ihrer Kinder um.
In Kanada, wo sie zwei Jahre gelebt hatten, da hatte Mami sogar Geld damit verdient. Eine Freundin hatte sie eines Tages überredet, ihr regelmäßig originell bemalte T-Shirts für ihre Boutique zu liefern. Das war ein riesiger Erfolg gewesen, nur daß Mami gar nicht so viele Hemden bemalen konnte, wie die Leute kaufen wollten.
Kanada! Wann immer Katja an die Zeit dort zurückdachte, fühlte sie diesen dicken Kloß in der Kehle, und in ihrem Bauch begann es zu kribbeln, als hätte sie Mücken gefrühstückt. Es war ein Gefühl von Heimweh und Sehnsucht und Glück, wenn man nur das Wort aussprach und dabei die vertrauten Bilder in einem aufstiegen. Die Erinnerung an das weiße Haus am
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