100 Stunden Todesangst
fliehen wollte. Raukel
leistete keinen Widerstand, obwohl er seine Pistole in der Hand hatte. Ein
Streifenwagen bringt ihn ins Präsidium. Daß es sich um einen Mordversuch
handelt, daran besteht kein Zweifel. Eine tragische Angelegenheit.“
Allmählich,
dachte Tom, könnte mal einer die ganze Story rauslassen. Jeder erzählt nur
Bruchstücke. Kein Bild setzt sich zusammen, zumindest bei mir nicht.
„Nämlich?“
fragte Gunter.
„Als sich
rausstellte, daß es sich tatsächlich um einen Kollegen handelt“, sagte der
Oberkommissar, „wurde ich verständigt. Ich kam sofort her. Habe eben im Wagen
mit Raukel gesprochen. Er ist vollkommen geständig, hält nichts zurück — und
sieht aus wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hat.“
„Wieso er?“
fragte Ebert. „Ich denke, er wollte Lorenz erschießen.“
„Allerdings.“
Hochtürh
blickte in eine Ecke, wo gebrauchte Abendkleider hingen: Roben und Fähnchen in
allen Farben und Größen.
Die Kleider
sah er natürlich nicht, hatte vielmehr den Blick nach innen gedreht: auf seine
Gedanken. Sollte und durfte er hier vor der Presse alles auspacken?
Gunter
erriet seine Zweifel.
„Ich werde
mich nicht auf dich berufen, Klaus. Also zier dich nicht wie die Jungfrau vom
Finsterwald. Was steckt dahinter?“
Ebert zog
bereits seinen Notizblock hervor und einen Kugelschreiber, dessen Feder kaputt
war. So oft er auch drückte — die Spitze der Mine kam nicht hervor.
„Reporter
nennt sich das“, sagte Locke — und nahm einen Kugelschreiber aus ihrer
Umhängetasche. „Bitte, Herr Ebert.“
„Danke,
Prinzessin“, grinste er.
Dann
blickten alle auf Hochtürh.
Der
Oberkommissar nahm seine Uniformmütze ab, wischte mit dem Finger übers
Schweißband und setzte sie wieder auf.
Es wurde
kalt im Laden. Die Eingangstür stand offen, wie Tom bemerkte.
Er erbarmte
sich, obwohl er schon beide Hände in den Taschen hatte, und drückte die Tür ins
Schloß. Der Schlüssel steckte innen.
„Du kennt
PM Raukel?“ wandte sich Hochtürh an Gunter. „Nein? Nun, er gilt als
ausgezeichneter Beamter: korrekt, einsatzfreudig, ruhig, ausgleichend. Er war
vorgeschlagen als Kontaktbeamter. Du weißt: Das sind sozusagen unsere
Mittelsmänner zur Bevölkerung. Sie brauchen Fingerspitzengefühl. Und jetzt —
man begreift es kaum — wäre Raukel beinahe zum Mörder geworden. Er sagte mir,
weshalb. Und er sagte auch, daß er Sie, Ebert, vorhin angerufen habe, um Ihnen
einen Bericht zu geben: von dem, was noch geschehen würde — und was Gott sei
Dank! vereitelt wurde. Raukel rief Sie an, Ebert, weil der Bericht über den
Mord an Karl-Otto Lorenz unbedingt morgen, am 23. November, im Tageblatt stehen
sollte. Raukel weiß, wann ihr Redaktionsschluß habt. Deshalb schickte er den
Bericht seiner Tat voraus.“
Gunter
stieß zischend die Luft über die Zähne. Sein Schnauzbart sträubte sich wie ein
Igelfell in Verteidigungsstellung.
„Als
Journalist gewöhnt man sich das Staunen ab. Aber jetzt haut’s mich vom Hocker.
Was hat Raukel bezweckt?“
„Er scheint
ein sentimentaler ( rührseliger ) Romantiker zu sein. Oder er tickt nicht
richtig. Die Gutachter werden das klären. Jedenfalls hat er sich in eine
Vorstellung verbohrt, die Selbstjustiz heißt. Es war Rache. Deshalb wollte er
Lorenz töten. Und die Meldung seines Todes sollte morgen im Tageblatt stehen,
weil morgen der Todestag seiner Freundin ist.“
„Raukels
Freundin?“ fragte Ebert überflüssigerweise. Hochtürh nickte. „Ich kannte Eva
Müller nicht. Sie soll ein reizendes Geschöpf gewesen sein. Weihnachten vorigen
Jahres wollten die beiden heiraten. Aber am 23. November wurde Eva tödlich
überfahren. Der Fahrer beging Unfallflucht. Der Fall wurde nicht geklärt.
Raukel mußte beurlaubt werden. Offenbar schwebte er am Rande eines
Nervenzusammenbruchs. Als er dann den Dienst wieder antrat, wirkte er äußerlich
ruhig. Das bestätigten seine Kollegen. Jetzt wissen wir, daß er heimlich
ermittelt hat. Hartnäckig — und in aller Stille. Er ist systematisch
vorgegangen und klapperte sämtliche Kfz-Werkstätten ab: in der Stadt, in der
Region, im ganzen Ballungsgebiet. Und heute hat das Schicksal seinen Bemühungen
die Krone aufgesetzt: einen Tag vor dem 23. November. Das muß man sich
vorstellen! Heute erhielt Raukel den Beweis. Eine zwielichtige Werkstätte
draußen auf dem Land hat am 24. November vorigen Jahres den Wagen von Karl-Otto
Lorenz repariert. Der rechte Scheinwerfer war zersplittert, Blech
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