1.000 Euro für jeden
auch nicht richtig
dazugehören. Sie pendeln zwischen Perioden der Arbeitslosigkeit und
Erwerbstätigkeit, zwischen Formen geförderter und nicht geförderter
Beschäftigung, zwischen mehr oder weniger gesicherten Erwerbsformen und Armut
trotz Erwerbsarbeit hin und her. Berlin ist die Hauptstadt dieser prekären
Verhältnisse. Dort erzeugt die Allgegenwart von drohender Armut ein spezielles
Gemeinschaftsgefühl unter den jungen Kreativen, die massenweise in die Stadt
strömen. In Berlin, der Hauptstadt, der armen, der schönen, die so tief in der
Schuldenfalle sitzt und reich nur an kreativen Potentialen ist, bricht sich die
Bundesrepublik am radikalsten. Nirgends ist der Zerfall der bisherigen sozialen
Sicherungs- und Finanzsysteme auf allen Ebenen sichtbarer als dort, nirgends
die Abwesenheit von traditioneller Industrie deutlicher. Gleichzeitig gibt es
wohl nirgendwo in der Bundesrepublik mehr junge, neugierige Menschen aus aller
Welt, die wegen der oft diffus empfundenen Besonderheit in die Stadt drängen,
offenkundig auf der Suche nach Lösungen, nach gesellschaftsrelevanter
Ausweitung des eigenen Handelns.
Das
Hamburger Institut für Sozialforschung beobachtet im Auftrag des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales seit einigen Jahren die prekäre
Beschäftigung in Deutschland. Sein Ergebnis: Grenzgänger schaffen trotz hoher
Aktivität, Kreativität und Mobilität nur selten den Aufstieg in
erwerbsbiographische Stabilität. Es spricht, den französischen Architekten und
Philosophen Paul Virilio zitierend, »von einem rasenden Stillstand«. Aus Angst
vor beruflicher Deklassierung und vor sozialer Ausgrenzung bemühen sich diese
Grenzgänger, um jeden Preis in einem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, der nur
kurzfristige Jobs, aber keine perspektivisch angelegte Beschäftigung mehr
kennt. Sie bleiben im Prekariat gefangen.
Prekäre
Erwerbsformen nehmen in einem ungeordneten Arbeitsmarkt mit flexibler
Beschäftigung stetig zu. Kurzarbeit, Leiharbeitsverhältnisse, befristete
Beschäftigung, Minijobs und Arbeit im Niedriglohnbereich führen zu einer
Verwischung der Grenzen zwischen stabilen Arbeitsverhältnissen mit stetigen
Karrieren in beruflicher Sicherheit einerseits und instabilen Sphären mit
unsicheren Erwerbsverläufen, wechselnden Arbeitsverträgen und periodischer
Arbeitslosigkeit andererseits. Das besorgniserregende Fazit des Hamburger
Instituts für Sozialforschung: »Die Fragilität von Beschäftigungsverhältnissen,
das rechtliche, soziale und materielle Prekariat der Erwerbsarbeit, aber auch
die wachsende Hilfebedürftigkeit hat Einzug in ehedem stabile Bereiche der
sozialen und beruflichen Mittelschicht gehalten.«
Wertschätzung statt
Depression
Dass
prekäre Arbeitsverhältnisse körperliche, geistige und seelische Höchstleistung
bedeuten, beweist die zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen.
Arbeitsverdichtung, die Komprimierung, die Schnelligkeit am Arbeitsplatz
bereiten Dauerstress. Dazu kommt der bereits erwähnte wachsende private Stress,
weil die berufliche Belastung sich immer schwerer mit den Erfordernissen des
familiären und sozialen Umfeldes vereinbaren lässt. Nicht zuletzt quält die
Unsicherheit – und immer häufiger Existenzangst.
Das
Wissenschaftliche Institut der AOK (WIDO) ermittelte einen Zuwachs der
Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen im Zeitraum von 1995 bis 2009 um
achtzig Prozent. Dabei dominieren Depressionen und Angsterkrankungen, Zwangsstörungen
und Reaktionen auf schwere Belastungen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und
Ohnmacht ist einer der wesentlichen Auslöser von Depressionen. Als Gründe für
diese Zunahme der psychischen Erkrankungen gelten die rasanten Entwicklungen
der Arbeitswelt. Bisherige Belastungen wie Nacht- und Schichtarbeit sind
geblieben, neue wie berufliche Mobilität oder erhöhter Termin- und Leistungsdruck
sind hinzugekommen. Die angespannte Situation seit der Wirtschaftskrise lässt
diese krankmachende Unsicherheit chronisch werden.
Eine
2009 publizierte Studie des WIDO und der Universität Bielefeld zeigt, dass
Arbeitsplatzunsicherheit häufig mit einem höheren Arzneimittelverbrauch,
vermehrtem Alkoholkonsum, aber auch mit weniger sozialen Kontakten verbunden
ist. Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland versuchen, den gestiegenen
Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden, indem sie zu Psychopharmaka
greifen.
Mehr
als siebzig Prozent der Beschäftigten gingen 2009 krank zur Arbeit oder
warteten zur Genesung das
Weitere Kostenlose Bücher