101 - Gangster in London
und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.
Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.
»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.
»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, zumal, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.
»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«
»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«
Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: Es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.
Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.
»Wollen Sie Ed diesen Brief geben?« fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche. »Meinen Sie Mr. Tanner?«
»Ja: Ed Tanner.« Er nickte. »Sagen Sie ihm, er komme vom ›Großen‹!«
Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht. »Vom ›Großen‹?« wiederholte er nachdenklich. »Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann - etwa so groß?«
Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.
»Ach, seh'n Sie mal an!« entgegnete Tanner. »Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!«
2
»Es gibt zwei vorherrschende Triebkräfte im Leben der Männer: die Liebe und die Furcht vor dem Tode... Verstehen Sie?« Captain Jiggs Allerman von der Chikagoer Geheimpolizei lehnte sich im Sessel zurück und blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke hinauf. Er war groß, schlank und von der Sonne gebräunt wie ein Indianer.
Terry Weston grinste. Er amüsierte sich immer über Jiggs. »Sagen Sie mal: Sie sind doch Chefinspektor oder so etwas Ähnliches?« fuhr Jiggs fort. »Mir scheint, daß man nächstens hier noch Kinder zu höheren Beamten macht. Wie alt sind Sie denn jetzt, Terry?«
»Fünfunddreißig.«
Jiggs machte ein verächtliches Gesicht. »Das ist eine gemeine Lüge! Wenn Sie älter sind als dreiundzwanzig, dann lasse ich mich totschießen.«
»Immer wenn Sie Ihren jährlichen Besuch in Scotland Yard machen, erzählen Sie denselben faulen Witz. Man könnte doch meinen, daß Ihnen mit der Zeit etwas Neues einfallen sollte? Aber Sie haben eben von zwei Triebkräften im Leben gesprochen... «
»Ja - Liebe und Tod.« Jiggs nickte eifrig. »Mit der Liebe hat man immer schon viel Geld verdient; aber mit dem Tod haben bisher nur die Ärzte und die Beerdigungsinstitute ihr Geschäft gemacht. Doch passen Sie auf: Das wird jetzt anders, Terry! In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr Unsummen für den persönlichen Schutz wohlhabender Bürger verausgabt. Und was dort drüben ein gutes Geschäft ist, müßte sich auch in England, Frankreich, Deutschland oder sonstwo bezahlt machen. Die Menschen sind überall gleich, und es wird überall mit Wasser gekocht. Jedenfalls: Unsere großen Gangster - ich weiß das - haben sich inzwischen in England umgesehen, und zwar einer aus Chikago und einer aus New York. Und wenn die sich was in den Kopf setzen, führen sie's auch durch. Denn diese Burschen, mit denen ich es drüben zu tun habe, denken in Millionen oder gar in achtstelligen Zahlen. Im vorigen Jahr wollten sie ein neues Geschäft
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