1014 - Der Seelenkompaß
offensichtlich seine Normalität zurückerhalten.
Jane schauderte zusammen. Dann hielt sie sich an mir fest. »Er ist in der Nähe, John…«
»Wo?«
»Frei!«
Die Antwort bereitete mir Sorgen. Ich konnte Janes Furcht nachvollziehen. Sie war wehrlos. Ich stand unter dem Schutz meines Kreuzes, das Ankh hatte gehandelt.
Letzte Reste des Seelenkompasses sackten zusammen. Auf dem Boden hatte sich ein goldener Teppich gebildet. Er würde irgendwann sicherlich hart werden, aber das hatte nichts mit dem Schatten zu tun, der plötzlich da war.
Er stand vor uns!
Und zum ersten Mal sahen wir Kam-El-Baad!
***
Er war ein Schatten, eine durch geraubte Seelen selbst aufgepumpte Seele, aber er hatte plötzlich Gestalt angenommen, und das überraschte uns.
Dieses Gespenst war das Abbild des Hohepriesters Kam-El-Baad. Ein menschlicher Umriß, der zitterte und auch in seinem Innern nicht ruhig blieb.
Dort bewegte sich etwas hin und her. Es tanzte. Es waren unterschiedliche helle Flecken, und ich rechnete damit, die geraubten Seelen der Menschen zu sehen. Kam-El-Baad hatte sie gefressen, um sich zu stärken. Möglicherweise wollte er durch sie wieder in das Reich des Normalen und Lebendigen zurück. Ich konnte da nur spekulieren und mit einem Angriff seinerseits rechnen.
Ich war schneller.
Mit einem Satz sprang ich diesem feinstofflichen Gebilde entgegen. Es zuckte, es huschte plötzlich auf mich zu und zugleich in mich hinein.
Wie in der Zelle, dachte ich noch, spürte ein leichtes Brennen, dann war es vorbei, aber hinter mir schrie Jane.
Ich flog auf der Stelle herum!
Der Seelenfresser hatte seine neue Beute bekommen. Noch stand er vor der Detektivin, und es sah so aus, als wollte er sie umarmen wie ein Liebhaber.
Dann aber drängte sich sein Körper zusammen, weil er in die schockstarre Jane Collins eindringen wollte.
Ich war schneller!
Bevor sich seine mächtige Energie auf einen Punkt konzentrieren konnte, hatte ich mein Kreuz eingesetzt.
Vielmehr das Ankh, das Henkelkreuz.
Es zerstörte. Es war die ultimative Waffe gegen den Seelenfresser. Es raste hinein, auch hindurch, es zerriß diesen kompakten Klumpen Energie. Es zerstörte die geraubten Seelen endgültig, sie huschten von uns weg, und wieder glaubte ich, ferne Klageschreie zu hören, die verwehten.
Es wurde ruhig, totenstill, bis Jane Collins laut und tief Atem holte.
Wir schauten uns an. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Er ist doch hier gewesen, John. Aber ich komme nicht mehr klar.«
»Manchmal ist das so.«
»Kommst du denn klar?«
Ich schaute mich um, hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Nein, Jane, nicht so wie du denkst. Wir haben gemeinsam etwas erlebt, wir haben einen Seelenkompaß entdeckt, wir bekamen Besuch von einem Seelenfresser, wir mußten akzeptieren, daß er stärker war als wir Menschen, aber alle Rätsel zu lösen, ist uns nicht gelungen. Sie liegen eben zu tief in der altägyptischen Mythologie begraben.«
»Dann kommst du auch nicht zurecht.«
»So ist es.«
»Ist das eine Niederlage?«
»Nein, Jane, überhaupt nicht. Wir konnten zwar nicht alles ergründen, aber als Niederlage würde ich das nicht bezeichnen. Es gibt den Seelenfresser nicht mehr, nur das zählt.«
»Du hast recht, John, so sollte man es sehen. Wo kämen wir hin, wenn wir versuchen würden, alle Rätsel der Welt zu lösen? Das wäre zu vermessen. Mir reichen die wenigen, und auch da müssen wir Rückschläge immer einkalkulieren.«
»Ich weiß, was du meinst.«
Schweigend verließen wir die Seelenhalle, die diesen Namen nicht mehr verdiente. Phil Warren hatte seinen Einsatz für die andere Seite mit seinem Leben bezahlt, und niemand außer ihm hatte gewußt, was sich unter dem Kriminalmuseum verborgen gehalten hatte.
Den Schrank schoben wir nicht mehr vor die Tür. Wir wollten den Zugang für meine Kollegen von der Spurensicherung freilassen. Noch aus dem Museum rief ich sie über mein Handy an.
Suko sagte ich nicht Bescheid. Er würde in einigen Stunden erfahren, daß der Fall zu den Akten gelegt werden konnte. Diesmal allerdings hatte ich dabei kein zufriedenes Gefühl, aber wir waren, im Gegensatz zu Warren mit dem Leben davongekommen. Und das war schließlich am wichtigsten.
Jane mußte erkannt haben, daß ich mir meine Gedanken machte, denn sie sagte: »Trotz allem, was passiert ist, für mich hatte die Nacht auch schöne Stunden.«
Da ich wußte, welche sie damit meinte, konnte ich ihr nur
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