102 - Die Gottesanbeterin
ganzes Gesicht bis über die Stirn. Auf dem kahlgeschorenen Schädel stand am Hinterkopf der Samuraizopf, kunstvoll verschlungen. Die Eisenmaske hatte nach oben gedrehte Spitzohren, die wie Helmflügel wirkten. In der roten Schärpe um die Leibesmitte trug der geheimnisvolle Samurai zwei Langschwerter und einen Dolch. Das eine Schwert mußte sehr wertvoll sein, das sah der Sumotori Ibara schon an dem goldverzierten langen Griff und dem breiten Stichblatt.
Der Samurai stand vor einem Schrein aus Edelholz, dessen Deckel er geöffnet hatte. Der Schrein war au fein niedriges Tischchen gestellt.
Der Samurai wandte sich dem Sumotori zu.
„Wer bist du?" fragte Ibara. „Was machst du hier?" Er räusperte sich. „Elender Dieb, ich werde dich der Polizei übergeben!"
Der Samurai lachte. Mit einer blitzschnellen, geschmeidigen Bewegung zog er seine beiden Schwerter.
Jetzt sah Ibara, daß das eine an der Unterseite des Schwertstichblatts ein Krabbenmuster hatte. Es mußte eines jener berühmten Samuraischwerter sein, die eine besondere Geschichte hatten und von denen Wunderdinge erzählt wurden.
Sein Schwert war die Seele eines Samurai, sein Stolz und sein Karma. Wenn er es verlor, mußte er alles daransetzen, es zurückzugewinnen. Sonst blieb ihm als letzter Ausweg nur, Harakiri zu begehen.
Der Samurai schwang seine beiden Schwerter und ließ sie gegeneinander blitzende Kreise beschreiben. Ibara sah nur zwei stählerne Kreise, so schnell wirbelten die Klingen durch die Luft. Es entstand ein surrendes, zischendes Geräusch. Schnell wie eine große Raubkatze kam der Samurai auf Ibara zu.
Der Koloß mußte vor den wirbelnden Schwertern zurückweichen. Er flüchtete auf den Gang hinaus. Der Samurai folgte ihm.
Der Sumotori stieß Angstschreie aus. Immer wieder rasten die Schwertklingen auf ihn zu, immer wieder glaubte er, diesmal würde er den tödlichen Hieb empfangen. Doch jedesmal lenkte der Samurai mit der Eisenmaske den Hieb oder Stich ab.
Millimeterdicht zischten die Klingen an Ibaras feistem Körper vorbei. Sein Gewand wurde in Fetzen zerschnitten. Die Schwertspitzen zeichneten blutige Muster auf seine feiste Brust, den Bauch und die Arme; sie ritzten aber immer nur die Haut.
Ibara hatte keine Chance gegen den Fechter. Er war jetzt stocknüchtern und schwitzte vor Angst. Ibara stand mit dem Rücken zur Wand am Ende des breiten Flurs. Es gab keinen Ausweg mehr für den Hundertvierzig-Kilo-Koloß. Seine gewaltige Kraft und seine Sumoausbildung halfen Ibara Koschiro nichts.
Er blieb stehen, die Arme an der Wand.
„Wollt Ihr meinen Tod?" fragte er den Samurai, den er jetzt respektvoller anredete.
„Was habe ich von deinem Tod, du Wurm?" fragte der andere mit sonorer Stimme zurück. „Beuge den Nacken vor mir, dann will ich dich verschonen!"
Ibara gehorchte. Er war am Ende seiner Nerven. Dieser hünenhafte Samurai war einfach zu unheimlich. Wie konnte er sprechen und sehen, wo doch die Eisenmaske sein Gesicht völlig bedeckte?
Der Sumotori neigte den Kopf. Eine Schwertklinge pfiff durch die Luft, und er spürte eine leichte Berührung.
Ibara griff an seinen Hinterkopf und erstarrte. Sein Oichomage, der Zopf an der Sumotorifrisur, die etwas Ähnlichkeit mit einem Hahnenkamm hatte, war abgeschnitten. Das war der größte Schimpf, der einem Sumotori widerfahren konnte. Das Abschneiden des Zopfes bedeutete das Ende der aktiven Laufbahn und den Ausschluß aus der Sumogilde. Wenn ein Fremder gegen den Willen des kampffähigen Sumotori den Zopf abschnitt, war es eine tödliche Schande.
Mit einem Schrei richtete Ibara sich auf. Er wollte sich auf den Samurai werfen. Aber der Schwarzgekleidete hielt ihm nur die Spitze seines kostbaren Schwertes vor den fetten Leib; Ibara hätte sich selbst aufgespießt bei einem Angriff.
Der Sumotori starrte die eiserne Maske mit dem roten Fratzengesicht an. Dann sah er auf seinen abgeschnittenen Zopf, der auf der Erde lag.
Der Samurai hielt das zweite Schwert so mit der Klinge nach oben, daß sie eine Linie mit der Nase seines Maskengesichtes bildete.
Ibara kam zu einem Entschluß. Er wollte sterben. Er zog den Tod einem Leben in Ehrlosigkeit vor. Mit einem Schrei warf er sich in das Schwert; das heißt, er wollte sich hineinwerfen. Schnell zog der Samurai es weg.
Ibara plumpste auf seinen fetten Bauch. Der Koloß lag auf dem Boden. Höhnisch lachte der Samurai.
Diese neue Schande und Demütigung waren zuviel für Ibara. Er schluchzte und bedeckte die Augen mit den dicken
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