102 - Die Gottesanbeterin
Ibara Koschiro lag auf dem bequemen Mattenlager hingestreckt. Er fühlte sich so wohl, wie noch nie in seinem Leben. Der Hundertvierzig-Kilo-Koloß versuchte, einen Schlager mitzusummen, der aus dem Transistorradio ertönte. Der Text handelte von Kirschblüten und Liebe. Er hörte sich so an, als hätte ein zwölfjähriger Hilfsschüler ihn geschrieben.
Ein geleerter Kasten Asahi-Bier stand neben Ibara. Gerade hatte er mit dem zweiten begonnen. Ibara hatte schon einmal viereinhalb Kasten und eine Flasche Whisky getrunken, bevor ihn seine Sumoringerkollegen auf sein Mattenlager trugen. Ein Sumoringer mußte ein gewaltiger Esser und Trinker sein, sonst konnte er sein Gewicht nicht halten, das nicht unter einhundertdreißig Kilo betragen durfte.
Die Blase drückte Ibara. Er erhob sich, und der Kimono klaffte über seinem unbehaarten Bauch auf. Ibara war ein wandelnder Fleischberg, knapp ein Meter achtzig groß, aber er bewegte sich überraschend leicht und geschmeidig.
Er öffnete die Tür und ging zur Gemeinschaftstoilette der niederen Sumoränge. Ibara befand sich allein in der Sumoschule des Isogai Taketsura. Isogai und die übrigen Sumotori weilten im Hakone- Nationalpark, wo sie an wichtigen Schaukämpfen teilnehmen wollten. Ibara hielt in der Sumoschule in Tokio die Stellung.
Als er sich erleichtert hatte, überlegte er sich, daß er genausogut jetzt seine fällige Runde durch das Haus machen konnte; später würde er dazu vielleicht nicht mehr imstande sein.
Isogai Taketsura würde mit den andern Sumotori erst in einer Woche zurückkommen. Bis dahin gedachte Ibara, wie im Paradies zu leben. Er brauchte nicht zu trainieren und würde jeden Tag essen und vor allem trinken, bis er sich nicht mehr rühren konnte.
Wenn Ibara noch zehn, zwanzig Kilo zunahm, konnte das nur gut sein für ihn.
Der Koloß rülpste, als er die steile Holztreppe des dreistöckigen Steinhauses in einem der südlichen Stadtteile von Tokio hinunterstieg. Er sang immer noch den Schlagertext nach, sang aber von Bier und Liebe, denn von Kirschblüten hielt er nichts.
Im zweiten Stock, in dem sich die Schlafräume der Sumotori höheren Ranges befanden sowie die Eß- und Aufenthaltsräume, war alles in Ordnung.
Ibara stieg in den ersten Stock hinunter. Hier befanden sich im rechten Trakt des Hauses die Wohnräume des Isogai Taketsura, des Leiters und Besitzers der Schule. Isogai hatte Ibara eingeschärft, er sollte sie besonders im Auge behalten, denn es befanden sich wertvolle Kostbarkeiten in diesen Räumen.
Ibara wollte die Tür aufsperren, die zu Isogai Taketsuras Räumen führte. Alle andern Türen im Haus waren unversperrt und bestanden aus leichtem Material. Ein Sumotori konnte, wenn es sein mußte, hindurchspazieren, ohne sie zu öffnen.
Ibara konnte den Sicherheitsschlüssel im Schloß der massiven Feuerschutztür nicht umdrehen. Er hantierte mit dem runden Türknopf herum. Die Tür war unversperrt. Als Ibara sie einen Spalt öffnete, sah er Licht.
Jemand befand sich in Isogai Taketsuras Räumen. Einbrecher, dachte Ibara sofort. Er überlegte sich, ob er die Polizei anrufen sollte, aber dann dachte er: selbst ist der Mann.
Als ausgebildeter Sumotori fürchtete der Koloß sich vor nichts und niemandem auf der Welt. Diesen Einbrechern würde er es zeigen. Er konnte sie in der Luft zerreißen, wenn sie sich nicht gleich ergaben, oder mit seinem Gewicht plattwalzen.
Wie immer, wenn er getrunken hatte, fühlte Ibara sich sehr stark. Er schlüpfte durch die Tür und schlich leise über den breiten Gang mit den Rollenbildern an der Wand. Tuschzeichnungen stellten Kirschbäume und Gebirgslandschaften dar.
Ibara hörte ein Geräusch aus dem Raum, der Isogai Taketsuras Heiligtum war: aus dem Raum der Erbauung. Noch nie hatte Isogai Taketsura einen der Sumotori diesen Raum betreten lassen - nicht einmal einen der beiden Maegeschira, die er in seiner Schule hatte.
Die Tür des Raums der Erbauung war nur angelehnt. Ibara leckte sich über die Lippen. Wieder hörte er ein Geräusch, dann einen Fluch.
Es schien nur ein Mann in dem Raum zu sein. Der Sumotori riß die Tür auf.
Der Schrei, den er hatte ausstoßen wollen, blieb ihm in der Kehle stecken.
Eine phantastische und zugleich Schreck einflößende Gestalt stand vor ihm. Ein zwei Meter großer Mann, riesig für japanische Begriffe, mit einem schwarzen, über die Knie reichenden Gewand. Er trug eine schwarze Eisenmaske mit einer aufgemalten roten Fratze. Die Maske bedeckte sein
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