1098 - Das brennende Gesicht
alten Kirchenbücher und kannte sich sehr gut mit der Vergangenheit der Insel aus. Sie war nicht immer fröhlich und gut gewesen. Früher hatten die Insulaner ständig zu kämpfen und sich auch gegen Feinde zur Wehr setzen müssen. Da war das Eiland noch größer gewesen. Schwere Sturmfluten hatten ihm viel Landmasse genommen.
Ole hatte schon den Motor angelassen. Sein Freund Jan stieg ein und war froh, als Ole endlich losfuhr. Sie fuhren über die normale Straße Richtung Keitum, wo beide wohnten.
Jan Michels drehte sich noch einmal um.
Er sah den Biikenhaufen wie einen kompakten Würfel auf dem Feld stehen. Feuer oder Glut sah er nicht, und er fragte sich, ob er das nicht alles geträumt hatte…
***
Zumindest äußerlich ließ ich mir nicht anmerken, daß mich die Worte meines Gegenübers erschreckt hatten. Paul Pucheim blieb auch ganz ruhig. Er schaute mich nur an und suchte in meinem Gesicht nach einer Reaktion. Er war älter als ich, Mitte Fünfzig, hatte ein rundliches Gesicht, braune Haare und trug eine Brille.
Hinter den Gläsern blickten die ebenfalls braunen Augen sehr ernst.
»Warum sagen Sie nichts, Mr. Sinclair?«
»Ich bin überrascht.«
»Das kann ich mir denken. Glauben Sie mir nicht?«
»Es kommt darauf an.«
»Sie meinen damit, daß ich konkreter werden sollte.«
»Das wäre angebracht.«
Er seufzte und griff zu seinem Glas, das noch zu einem Drittel mit Chablis gefüllt war. »Es ist schwer, ich weiß. Ich habe auch lange überlegt, ob ich mich an Sie wenden soll. Schließlich mußte ich nach London fliegen, aber auf der Insel hat man mich an Sie verwiesen. Sie erinnern sich noch an Keitum und an das Deich-Hotel?«
Zum erstenmal lächelte ich. »Und ob ich mich daran erinnere. Ich habe mich bei Anja und Claas Claasen sehr wohl gefühlt.«
»Sie sind dort auch nicht vergessen worden. Von den beiden bekam ich ja den Tip.«
Da mein Glas leer war, kam die Bedienung und fragte, ob ich noch etwas trinken wollte. Ich entschied mich für ein Bier, das auch in diesem Bistro-Café frisch gezapft wurde. Es war ein neues Lokal und nicht mehr so kalt eingerichtet wie die anderen Bistros, die vor einigen Jahren ihren Siegeszug angetreten hatten. Hier war wieder Wert auf viel Holz und warme Töne gelegt worden. Wer wollte, der konnte auch die Bilder an den Wänden bewundern. Alte Landschaftsmalereien nordischer Gegenden.
»Sie wissen nicht viel von mir, Mr. Sinclair, aber das wird sich ändern. Ich bin Deutscher, von Beruf Historiker, aber ich bin auch so etwas wie ein Sagenforscher. Ich reise durch die Lande und höre dem Volk zu. Man findet immer wieder Geschichten, in denen oft viel Wahrheit steckt, die eben nur umschrieben sind. Damit will ich Sie nicht langweilen, sondern auf das Thema kommen.«
»Sylt!«
»Richtig. Wenn Sie dort gewesen sind, dann wissen Sie bestimmt auch, daß sich dort alte Sagen und Legenden gehalten haben. Küstenstriche sind dafür berühmt.«
»Da sagen Sie mir nichts Neues. Ich habe dort selbst einen sagenhaften Fall erlebt.«
»Das ist gut.«
»Worum geht es bei Ihrer Sage? Sie muß irgendwie etwas mit Feuer zu tun haben?«
»Genau. Kennen Sie das Biikenbrennen?«
»Ich kenne es nicht, aber ich habe davon gehört.«
»Es ist ein uralter Brauch auf der Insel, der an sich aus heidnischer Zeit stammt. Die Leute wollten durch das Anzünden von Reisig den Winter und auch die bösen Geister vertreiben. Zudem sollten die Feuer reinigend wirken und ihren Schutz und ihre Macht so verteilen, daß sie von den Männern mitgenommen wurden, die hinaus auf See fuhren. Details über das Biikenbrennen sind jetzt unwichtig, ich habe Ihnen das nur im Groben dargelegt.«
»Danke, Herr Pucheim. Daß wir beide hier sitzen, hat mit dem Biikenbrennen zu tun?«
»Das denke ich.«
»Wann startet es?«
»Morgen abend.«
»Hoppla, dann wird es knapp.«
Er nickte. »Vor allen Dingen mit den Hotelzimmern. Ich denke aber, daß der gute Claas Claasen vom Deich-Hotel noch etwas in die Wege leiten kann. Zudem herrscht in Deutschland momentan eine Grippewelle, da wird sicher der eine oder andere Gast abgesagt haben. Sie müssen es auf jeden Fall versuchen.«
»Das heißt, ich soll auf die Insel?«
»Unbedingt.«
»Und was sollte mich dahin drängen?«
»Das brennende Gesicht!«
Mit dieser Antwort konnte ich beim besten Willen nichts anfangen. Zum Glück tauchte die Bedienung neben mir auf und stellte das Bier ab. Es war ein junger Mann, der freundlich lächelte und mir einen guten
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