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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Großmutter anvertraut - wenn ich nicht Geige übte, bei Raphael Stunden hatte, die Plattenaufnahmen anhörte, die er mir mitbrachte, oder in seiner Begleitung Konzerte besuchte -, aber mein Leben hatte sich seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal die Musik am Kensington Square hörte, so grundlegend verändert, dass ich meine Mutter kaum vermisste. Vor dieser Zeit jedoch, daran erinnere ich mich genau, pflegte ich sie beinahe jeden Tag, so scheint es mir jedenfalls, in die Frühmesse zu begleiten.
    Eine Nonne aus dem Kloster bei uns am Platz, mit der sie sich angefreundet hatte, machte es möglich, dass meine Mutter täglich die Morgenmesse besuchen durfte, die eigentlich nur für die Nonnen gelesen wurde. Ich muss dazu sagen, dass meine Mutter zum Katholizismus übergetreten war, wobei ich nicht weiß, ob dies infolge einer echten Bekehrung zu einer anderen Glaubenslehre geschah oder als Ohrfeige für ihren Vater gedacht war, der anglikanischer Geistlicher und, soweit ich gehört habe, kein besonders angenehmer Zeitgenosse gewesen war. Mehr weiß ich über ihn nicht.
    Über meine Mutter weiß ich natürlich mehr, aber im Grunde genommen ist sie für mich nur eine schattenhafte Gestalt, denn sie hat ja die Familie verlassen, als ich noch relativjung war. Neun oder zehn war ich - ich weiß es nicht mehr genau - und erfuhr bei meiner Heimkehr von einer Konzertreise durch Österreich, dass meine Mutter fortgegangen war, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie hatte alles mitgenommen, was ihr gehörte, jedes Kleidungsstück und jedes Buch, dazu eine große Zahl Familienfotografien, und war verschwunden wie ein Dieb in der Nacht. Allerdings war es Tag gewesen, wie man mir erzählte, und sie hatte sich ein Taxi genommen. Sie ließ keinen Brief und keine Adresse für uns zurück. Ich hörte nie wieder von ihr.
    Mein Vater war mit mir in Österreich gewesen - er begleitete mich stets auf Konzertreisen, wie übrigens häufig auch Raphael - und wusste so wenig wie ich darüber, wohin und aus welchen Gründen meine Mutter gegangen war. Ich weiß nur, als wir nach Hause kamen, hatte mein Großvater eine seiner »Episoden«, meine Großmutter saß weinend auf der Treppe, und Calvin, der Untermieter, suchte allein und ohne Hilfe nach einer Telefonnummer, bei der er anrufen könnte.
    Calvin, der Untermieter?, fragen Sie. War der frühere Mieter - James, richtig? - nicht mehr da?
    Nein. Er muss im Jahr zuvor ausgezogen sein. Oder noch ein Jahr früher. Ich weiß es nicht mehr. Wir hatten im Lauf der Zeit eine ganze Reihe Untermieter. Anders wären wir finanziell nicht über die Runden gekommen, wie ich bereits sagte.
    Erinnern Sie sich an alle?, fragen Sie.
    Nein. Nur an die, die für mich eine besondere Bedeutung hatten, vermute ich. An Calvin, weil er an dem Abend da war, als ich erfuhr, dass meine Mutter uns verlassen hatte. An James, weil er dabei gewesen war, als alles begann.
    Alles?
    Ja. Die Musik. Der Geigenunterricht. Die Stunden bei Miss Orr. Alles eben.

26. August
    Für mich ist jeder mit Musik verbunden. Wenn ich an Rosemary Orr denke, fällt mir unweigerlich Brahms ein, das Violinkonzert, das sie aufgelegt hatte, als ich ihr das erste Mal begegnete. Bei Raphael denke ich an Mendelssohn. Bei meinem Vater ist es Bach, die Violinsonate in G-Moll. Und mein Großvater ist für mich immer mit Paganini verbunden. Die vierundzwanzigste Caprice war sein Lieblingsstück. »Diese Fülle von Tönen«, pflegte er staunend zu sagen. »Diese vollkommenen Töne.«
    Und Ihre Mutter?, fragen Sie. Welches Musikstück verbinden Sie mit Ihrer Mutter?
    Keines, eigentlich. Bei ihr ist es nicht so wie bei den anderen. Ich weiß nicht, woher das kommt. Das ist interessant. Vielleicht eine Form der Verleugnung? Oder der Verdrängung von Gefühlen? Ich weiß es nicht. Sie sind die Psychiaterin. Erklären Sie es mir.
    Ich tue das übrigens auch heute noch. Ich meine, dass ich ein bestimmtes Musikstück mit einer bestimmten Person verknüpfe. Bei Sherill beispielsweise denke ich sofort an Bartoks Rhapsodie. Das ist das Stück, das wir beide spielten, als wir das erste Mal gemeinsam öffentlich auftraten, vor Jahren, in St. Martin's in the Fields. Wir haben es seither nie wieder gespielt und wir waren damals beide noch Teenager - das amerikanische und das englische Wunderkind, das gab hervorragende Presse, glauben Sie mir -, aber mir wird immer sofort der Bartok präsent sein, wenn ich an Sherill denke. So funktioniert mein Bewusstsein einfach.
    Und

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