11 - Nie sollst Du vergessen
Nochehemann. Eigentlich leben wir getrennt, aber nur so getrennt, wie er's zulässt, weil er die Kohle und überhaupt nichts damit am Hut hat, mir zu helfen, damit ich auf eigenen Füßen stehen kann.«
Ich fand, sie sähe viel zu jung aus, um verheiratet zu sein, aber es stellte sich heraus, dass sie, so wenig man das bei ihrem Aussehen und gewissen Resten von Babyspeck, die übrigens etwas recht Niedliches hatten, vermuten konnte, dreiundzwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren mit dem unerfreulichen Rock verheiratet war.
Für den Moment jedoch begnügte ich mich mit einem kurzen »Ach!« als Kommentar.
Sie sagte: »Er hat einen Wahnsinnsjähzorn und von ehelicher Treue noch nie was gehört. Ich wusste nie, wann er ausflippen würde. Nachdem ich mich zwei Jahre lang ständig mit eingezogenem Kopf in der Bude rumgedrückt hatte, machte ich Schluss.«
»Oh. Das tut mir Leid.« Ich gebe zu, dass ich mich bei diesen privaten Geständnissen nicht sonderlich wohl fühlte. Es ist nicht so, dass mir solche Selbstentblößungen völlig fremd sind. Alle Amerikaner, die ich kenne, haben eine Neigung zu Beichte und Zerknirschung, als gehörte in ihrer Kultur das Herzausschütten genauso zur Grundausbildung wie das Salutieren vor der Flagge. Aber wenn man etwas kennt, heißt das noch lange nicht, dass es einem willkommen ist. Ich meine, was soll man mit solchen persönlichen Informationen eines anderen
anfangen?
Sie erzählte mir noch mehr. Sie wollte die Scheidung, er nicht. Sie lebten weiterhin unter einem Dach, weil sie nicht das Geld hatte, um sich von ihm zu trennen. Immer wenn sie sich gerade so viel zusammengespart hatte, wie sie brauchte, um sich auf eigene Füße zu stellen, hielt er einfach ihren Lohn so lange zurück, bis sie das mühsam Ersparte wieder aufgebraucht hatte.
»Und ich frag mich echt, warum er mich überhaupt dahaben will. Das ist so ungefähr das größte Rätsel meines Lebens, wissen Sie? Ich meine, der Typ ist total vom Herdentrieb beherrscht, wozu dann der Quatsch?«
Er war, erklärte sie mir, ein Macho ohnegleichen, ein Anhänger der Überzeugung, dass eine Gruppe weiblicher Wesen - »die Herde, capito?« - von nur einem männlichen Wesen beherrscht und begattet werden sollte.
»Das Problem ist nur, dass in Rocks Augen das gesamte weibliche Geschlecht die Herde darstellt. Und er muss sie alle bumsen, um sie glücklich zu machen.« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und sagte: »Hoppla. Entschuldigung.« Und dann lachte sie und sagte: »Naja, und so weiter. Du meine Güte, ich laber Ihnen hier die Ohren voll. Tut mir echt Leid. Haben Sie die Papiere unterschrieben?«
Das hatte ich natürlich nicht getan. Ich hatte ja gar keine Gelegenheit gehabt, sie zu lesen. Ich sagte, ich würde sie gleich unterschreiben, wenn Sie noch einen Moment warten könne. Daraufhin setzte sie sich still in eine Ecke.
Ich las, machte einen kurzen Anruf, um eine Passage zu klären, unterzeichnete die Verträge und gab sie ihr zurück. Sie schob sie in ihre Tasche, sagte danke und fragte dann, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt: »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Kommt darauf an.«
Sie trat leicht verlegen von einem Fuß auf den anderen. Aber dann packte sie den Stier bei den Hörnern, und ich bewunderte sie dafür. »Würden Sie - ich meine, ich habe noch nie eine Geige live gehört. Würden Sie mir bitte ein Lied vorspielen?«
Ein Lied! Sie hatte wirklich keine Ahnung! Aber auch Ahnungslose können lernen, und sie hatte höflich gefragt. Warum also nicht? Ich war sowieso beim Üben gewesen. Ich hatte an Bartoks Violinsonate gearbeitet und spielte ihr einen Teil der Melodia vor. Ich spielte so, wie ich immer spielte: mit ganzer Hingabe an die Musik, ohne Gedanken an mich selbst oder den Zuhörer. Als ich das Ende des Satzes erreichte, hatte ich ihre Anwesenheit vergessen. Ich ging zum Presto über, hörte wie immer Raphaels Mahnung: Mach es zu einer Aufforderung zum Tanz, Gideon. Spür die Lebendigkeit. Lass es funkeln wie Licht.
Zum Ende gekommen, wurde ich mir abrupt ihrer Gegenwart wieder bewusst, als sie sagte: »O wau! Wahnsinn! Ich meine, Sie sind ja echt total hervorragend!«
Als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie irgendwann während meines Spiels zu weinen begonnen hatte. Ihre Wangen waren feucht, und sie kramte in den Taschen ihrer Lederkluft, vermutlich auf der Suche nach einem Taschentuch, um ihre tropfende Nase zu trocknen. Es freute mich, sie mit Bartok bewegt zu haben, und
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