11 - Nie sollst Du vergessen
so funktioniert es auch bei Menschen, die nicht im Geringsten musikalisch sind. Nehmen Sie zum Beispiel Libby. Habe ich Ihnen von Libby erzählt? Libby, die Untermieterin. Ja, wie James und Calvin und all die anderen, nur gehört sie in die Gegenwart und nicht in die Vergangenheit. Sie wohnt im Souterrain meines Hauses am Chalcot Square.
Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, die Wohnung unten zu vermieten, bis sie eines Tages bei mir vor der Tür stand, um mir einen Plattenvertrag abzuliefern, den mein Agent sofort unterzeichnet haben wollte. Sie arbeitet bei einem Kurierdienst, und ich erkannte erst, dass sie eine Frau war, als sie mir die Unterlagen gab, ihren Motorradhelm abnahm und mit einer Kopfbewegung zu den Verträgen sagte: »Ay, nehmen Sie's mir nicht übel, okay? Ich muss einfach fragen. Sind Sie Rockmusiker oder so was?« Sie hatte diese übertrieben lässige und aufdringlich freundliche Art an sich, die eine Krankheit der Kalifornier zu sein scheint.
Ich sagte: Nein, ich bin Konzertgeiger.
»Nie im Leben!«, rief sie.
Doch im Leben, sagte ich.
Woraufhin sie mich so entgeistert ansah, dass ich glaubte, ich hätte es mit einer Schwachsinnigen zu tun.
Ich unterschreibe niemals einen Vertrag, ohne ihn vorher gelesen zu haben, auch wenn mein Agent stets beleidigt behauptet, das zeige, wie wenig Vertrauen ich in seine Geschäftstüchtigkeit habe, und da ich das arme Ding - so wirkte sie damals auf mich - nicht draußen warten lassen wollte, während ich den Vertrag prüfte, bat ich sie herein. Wir gingen in die erste Etage hinauf, wo mein Musikzimmer mit Blick auf den Platz ist.
»Oh! Wau! Sie sind echt wer, hm?«, sagte sie, während wir nach oben gingen und sie die Entwürfe für die CD-Cover sah, die an der Wand im Treppenflur aufgehängt waren. »Ich komm mir richtig blöd vor.«
Ich sagte: »Unsinn«, und ging, bereits in Vertragsklauseln über Begleiter, Tantiemen und Termine vertieft, ins Musikzimmer.
»Das ist ja irre hier«, sagte sie beeindruckt, während ich zu der Fensterbank ging, auf der ich eben jetzt diese Ereignisse für Sie aufschreibe, Dr. Rose. »Wer ist der Typ da mit Ihnen auf dem Foto? Der mit den Krücken. Mann, Sie schauen aus, als wären Sie gerade mal sieben Jahre alt.«
Du meine Güte! Er ist vielleicht der größte Geiger auf Erden, und die Frau hat keine Ahnung. »Itzhak Perlman«, sagte ich.
»Und ich war damals sechs, nicht sieben.«
»Wau!«, sagte sie wieder. »Und Sie haben richtig mit ihm zusammen gespielt, obwohl Sie erst sechs waren?«
»Wohl kaum. Aber ich durfte ihm an einem Nachmittag vorspielen, als er in London war.«
»Cool!«
Während ich las, marschierte sie im Zimmer herum und kommentierte, was sie sah, mit Ausrufen aus ihrem ziemlich beschränkten Vokabular. Ganz besonders hatte es ihr anscheinend mein erstes Instrument angetan, die kleine Sechzehntelgeige, die in meinem Musikzimmer einen Ehrenplatz innehatte. Ich bewahre auch meine Guarneri dort auf, die Geige, mit der ich heute spiele. Sie lag in ihrem Kasten, und der Kasten war offen, weil ich gerade beim Üben gewesen war, als Libby mit den Verträgen kam. Unbedarft, wie sie offensichtlich war, griff sie einfach zu und zupfte die E-Saite.
Der Ton jagte mich in die Höhe wie ein Pistolenschuss. »Rühren Sie die Geige nicht an!«, brüllte ich und erschreckte sie damit so sehr, dass sie wie ein Kind reagierte, das eine Ohrfeige bekommen hat.
»'tschuldigung!«, sagte sie und wich mit ausgestreckten Armen zurück. Als ihr Tränen in die Augen traten, wandte sie sich hastig ab.
Ich legte die Vertragspapiere aus der Hand und sagte: »Tut mir Leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber dieses Instrument ist zweihundertfünfzig Jahre alt. Ich gehe sehr sorgsam mit ihm um und erlaube im Allgemeinen niemandem -«
Mit dem Rücken zu mir, winkte sie ab. Sie holte ein paar Mal tief Luft, dann schüttelte sie energisch den Kopf, wobei ihr Haar in alle Richtungen flog - habe ich erwähnt, dass sie lockiges Haar hat? Dunkelblond und sehr kraus -, und rieb sich die Augen. Dann drehte sie sich herum und sagte: »Ist schon okay. Ich hätte die Geige nicht anrühren sollen. Das war total gedankenlos von mir. Ich kann verstehen, dass Sie mich angebrüllt haben, ehrlich. Es war nur - wissen Sie, einen Moment lang waren Sie so total Rock, dass ich Panik gekriegt hab.«
Eine Sprache vom anderen Stern. Ich sagte: »Total Rock?«
»Rock Peters«, erklärte sie. »Vormals Rocco Petrocelli und derzeit mein
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