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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Überzeugung, dass die wunderbare Begabung seines Enkels von der wohlmeinenden Rosemary Orr niedergehalten, aber nicht gefördert wird.
    »Er möchte Musik machen, verdammt noch mal!«, brüllt Großvater meinen Vater an, als sie die Situation besprechen. »Der Junge ist ein Künstler, Dick! Wenn du nicht fähig bist, das zu erkennen, dann besitzt du noch weniger Verstand, als ich bisher glaubte. Würdest du ein Rassepferd aus dem Schweinetrog füttern? Wohl kaum, Richard!«
    Vielleicht gibt mein Vater aus Furcht klein bei, aus Furcht davor, dass die nächste »Episode« ins Haus steht, wenn er sich dem Plan, den Großvater ihm ohne viel Federlassens unterbreitet, nicht beugt. Es ist ein ganz einfacher Plan: Wir leben in Kensington, nicht weit vom Royal College of Music entfernt, und dort wird sich ganz gewiss ein geeigneter Geigenlehrer für seinen Enkel Gideon finden.
    So wird mein Großvater zum Retter und Verwalter meiner unausgesprochenen Träume. Und so tritt Raphael Robson in mein Leben.

22. August
    Ich bin zu diesem Zeitpunkt vier Jahre und sechs Monate alt. Natürlich weiß ich heute, dass Raphael damals erst Anfang Dreißig war, aber für mich ist er von unserer ersten Begegnung an eine erhabene und Ehrfurcht gebietende Gestalt, die mir absoluten Gehorsam abfordert.
    Rein äußerlich hat er nichts Gefälliges. Er schwitzt übermäßig. Durch das feine Haar schimmert die blassrosa Kopfhaut. Seine Haut ist weiß wie ein Fischbauch und schuppt sich an vielen Stellen infolge übertriebener Sonnenbestrahlung. Aber sobald Raphael zu seiner Geige greift und mir vorspielt - so machen wir uns miteinander bekannt -, verliert sein Aussehen alle Bedeutung, und er wird mir zum großen Vorbild. Er wählt das Violinkonzert in E-Moll von Mendelssohn und gibt sich mit seinem ganzen Körper der Musik hin.
    Er spielt nicht einzelne Töne, er lebt in Klängen. Das Allegro-Feuerwerk, das er auf seinem Instrument entzündet, fasziniert mich. Innerhalb eines Augenblicks hat er sich verwandelt. Er ist nicht mehr der schwitzende, schuppige, profillose Schulmeister, sondern Merlin, und ich möchte seine Zauberkraft für mich gewinnen.
    Raphael, entdecke ich, hält nichts von Methodenlehre. Im Gespräch mit meinem Großvater sagt er klar und deutlich: »Es ist Aufgabe des Geigers, seine eigene Methode zu entwickeln.« Er lässt mich aus dem Stegreif Übungen machen. Er führt, und ich folge. »Versuche, an der Situation zu wachsen«, sagt er zu mir, während er spielt und mein Spiel beobachtet. »Verstärke dieses Vibrato. Fürchte dich nicht vor portamenti, Gideon. Du musst gleiten. Lass es fließen. Gleite.«
    Das ist der Moment, wo mein wahres Leben als Geiger beginnt, Dr. Rose, die Stunden bei Miss Orr waren nur Vorspiel. Anfangs habe ich dreimal die Woche Unterricht, dann vier-, dann fünfmal. Jede Unterrichtseinheit dauert drei Stunden. In den ersten Wochen finden meine Stunden in Raphaels Arbeitszimmer im Royal College of Music statt, und Großvater und ich fahren von der Kensington High Street aus mit dem Bus dorthin. Aber das lange Warten bis zum Ende meines Unterrichts tut Großvaters Nerven nicht gut, und zu Hause fürchten alle, dass es früher oder später zu einer »Episode« kommen und dann meine Großmutter nicht zur Stelle sein wird, um sich um ihren Mann zu kümmern. Es bleibt schließlich nichts anderes übrig, als mit Raphael Robson zu vereinbaren, dass er mich in Zukunft zu Hause unterrichtet.
    Das kostet natürlich Unsummen. Von einem Geiger von Raphael Robsons Kaliber kann man die nahezu ausschließliche Beschäftigung mit einem einzigen kleinen Schüler nicht verlangen, ohne ihn für Fahrzeiten, ausgefallene Stunden und selbstverständlich für die Zeit, die er mir widmet, zu vergüten. Der Mensch lebt schließlich nicht von der Liebe zur Musik allein. Zwar hat Raphael keine Familie zu ernähren, aber er muss doch für sich selbst sorgen, seine Miete und andere Kosten bezahlen, und darum muss irgendwie das Geld aufgebracht werden, das ihm erlaubt, seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ohne die Zahl meiner Stunden zu reduzieren, um anderweitig etwas dazuzuverdienen.
    Mein Vater hat, wie gesagt, bereits zwei Arbeitsstellen. Großvater erhält eine kleine staatliche Pension, gewissermaßen als Dank dafür, dass er dem Vaterland im Krieg seine geistige Gesundheit geopfert hat. Um diese geistige Gesundheit nicht noch mehr zu gefährden, haben meine Großeltern in den Nachkriegsjahren nie einen Umzug in eine

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