1136 - Das Blut der Bernadette
dabei verändert. Sie klang so, als spräche eine Mutter mit ihrem Kind, das nach langer Zeit endlich mal wieder brav und gehorsam war.
»Man wird dich nicht für immer töten können. Nein, das wird nicht geschehen. Du musst leben, wir haben alles getan. Wir haben dir das Blut der jungen Mädchen gegeben. Ein Engel darf nicht sterben. Er muss für immer und ewig auf dieser Erde wandeln, verstehst du das, Bernadette? Kein Tod für dich, nur noch Leben.«
Auf mich achtete die Frau nicht. Ich verhielt mich auch ruhig. Die Waffe lag neben dem Grab. Bernadette brauchte sie nicht mehr, da sie beide Hände frei haben musste.
Sie schleppte die schwere Figur tatsächlich weg und schleifte sie dabei über die Graberde, wobei die Füße auf dem weichen Boden Spuren hinterließen.
Ich ging auf die beiden zu - und hörte das knackende Geräusch. Schon einmal hatte ich es vernommen, als ich dicht an der Figur gestanden hatte. Da hatte ich dieses Geräusch zum erstenmal gehört und anschließend den Riß gesehen.
Jetzt wieder.
Neue Risse.
Zumindest entstanden die entsprechenden Geräusche, und auch die Oberin hatte sie gehört. Ich ging näher an die beiden heran, die das Grab noch nicht verlassen hatten.
Der Engel aus Stein wurde auch nicht weitergeschleppt. Er stand jetzt schräg, und die Oberin hielt sich dicht davor auf. Sie streichelte ihn, sie fuhr mit den Händen von oben nach unten und von unten nach oben, wobei sie das Blut verschmierten und die Psyche der Oberin immer stärker in Wallung brachten.
»Nein, nicht so, Bernadette. Bitte, nicht so. Es kann doch nicht so enden.«
Wieder hörte ich den Laut, mit dem weitere Teile der Figur zerrissen. Die Gestalt war so groß, daß die Stücke zur Seite sprangen, und zwar zuerst am Gesicht.
Aber der Kopf blieb.
Es war der einer Leiche.
Ich sah ihn gut, denn ich hatte meine Lampe hervorgeholt und zielte mit dem Lichtkegel an der Oberin vorbei auf das erstarrte, gelbliche Gesicht der Toten im Stein.
Es war ein sehr altes Gesicht. Selbst die Totenstarre hatte die Falten nicht glätten können. Augen wie Kiesel, ein krummer Mund, verfilzte Haare.
Die Oberin schrie auf. Es war mehr ein Schrei des Jubels, als sie in das Gesicht schaute. »Es ist geschafft! Es ist so wunderbar. Ich kann dich sehen. Du versteckst dich nicht mehr hinter der Steinmaske. Jetzt bist du zurückgekehrt. Du bist wieder bei uns. Das Blut hat dir geholfen. Ich habe mich nach deinem Testament gerichtet. Das Blut junger Menschen überwindet die Macht des Todes bei einem Engel, der aus den Tiefen der Finsternis stieg.« Sie fing an zu lachen und zu jubeln und merkte nicht, dass ich dem Grab immer näherkam.
Nach dem sechsten Schritt spürte ich bereits die weichere Graberde unter meinen Füssen.
»Sie wird nicht mehr leben!« sagte ich.
»Doch, doch!« schrie die Oberin. Sie hatte sich nicht umgedreht. Sie rief in das Gesicht des Engels.
»Bernadette ist eine Tote!« sagte ich.
»Aber sie lebt doch!«
»Dann ist sie ein Monster!« erklärte ich.
»Ich will nicht, dass sie… dass sie…« Ihre Stimme überschlug sich. Dann fasste sie zu und umarmte die seltsame Tote wie einen Geliebten.
Für mich war sie nicht interessant. Ich kümmerte mich mehr um den seltsamen Engel, der tot war und doch nicht sterben wollte. Man hatte ihn mit dem Blut junger Menschen gefüttert, und das hatte für die Veränderung gesorgt.
Aus der Nähe strahlte ich noch einmal das Gesicht an. Keine Steinhülle schützte es mehr. Ja, es war das Gesicht einer Leiche, aber bewegten sich bei Leichen die Augen?
Nein, sicherlich nicht.
Wieder riss der Stein an einer bestimmten Stelle. Diesmal in Höhe der Hüfte. Dort bröckelte das Zeug ab und prallte teilweise auf meine Füße. Und ich sah auch, dass eine Hand freilag. Wie von selbst wurde der rechte Arm in die Höhe gehoben, obwohl noch der Stein wie trocken gewordener Lehm den Arm bedeckte.
»Jaaaa…!« schrie die Oberin. »Du lebst! Es ist alles geschehen! Jetzt sehe ich es. Die Engel haben mir ihr größtes Geheimnis offenbart. Ja, du lebst…«
Sie war wie von Sinnen. Sie zerrte die Gestalt weg, und ich musste ebenfalls zurück. Ich wollte die Frau von ihrem verdammten Engel wegbekommen, aber sie klammerte sich an der Figur fest, als ginge es um ihr Leben.
Mit einem heftigen Ruck zerrte ich sie weg!
Jetzt, da der Engel nicht mehr gestützt wurde, verlor er den Halt und prallte auf den weichen Grabboden. Das sahen wir beide, und nur die Oberin fing an zu
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