1139 - Das Herz der Jungfrau
Weg zu seinem Mund. Diesmal kaute er nicht verbissen darauf herum, sondern zündete die Spitze an und paffte ein paar Mal. Der Rauch nebelte ihn ein, und Tanner ließ seine Gedanken wandern.
Ein namenloser Toter, dem das Herz aus dem Körper gerissen worden war. Das konnte nicht auf der normalen Mordebene abgelaufen sein. Da musste einfach mehr dahinterstecken. Eben ein Ritual, und er fragte sich, ob er der richtige Mann für diesen Fall war.
Blieb alles in normalen und begreifbaren Grenzen, dann schon. Liefen die Ermittlungen allerdings aus dem Ruder und bewegten sich in Richtung des Übersinnlichen, dann lagen die Dinge schon anders.
Da fühlte er sich dann nicht mehr so zuständig und überließ die Aufklärung gern einer Person, die John Sinclair hieß, und mit der er befreundet war.
Er spielte tatsächlich mit dem Gedanken, John schon jetzt anzurufen, aber er ließ es zunächst bleiben und wollte abwarten, was die Untersuchungen ergaben.
Als sich sein Handy meldete, fluchte er. Tanner hasste die Apparate, wusste aber zugleich, dass er ohne sie nicht mehr auskam. Es war seine Frau, die anrief und sich darüber beschwerte, dass er eigentlich schon zu Hause sein wollte.
»Ja, du hast recht.«
»Wie schön. Und wo bist du jetzt?«
»In einer Gartenanlage. Nicht weit von der Themse entfernt. Und es sieht so aus, als müsste ich noch etwas bleiben. Tut mir leid, es ist nicht anders zu machen.«
»Ein neuer Fall also?«
»Klar.«
»Verdammt, wann lässt du dich endlich pensionieren und jüngere Leute diesen ganzen Mist machen?«
»Man will mich ja noch.«
Sie lachte. »Du willst es.«
»Auch.«
Tanner hörte einen wütenden Laut und schließlich wieder die Stimme seiner Frau. »Gut, dann stelle ich dein Essen in den Kühlschrank. Wenn du willst, kannst du es dir ja aufwärmen.«
»Was gibt es denn?« Eine Antwort erhielt Tanner nicht, denn seine bessere Hälfte hatte schon aufgelegt.
Er konnte sie irgendwie verstehen, auf der anderen Seite liebte auch er seinen Job, und in Pension schicken lassen wollte er sich auch nicht.
Seine Zigarre schmeckte ihm nicht mehr. Er spie sie aus. Zischend landete sie in einer Pfütze.
Urplötzlich hatte Tanner das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Mann, den er nicht kannte. Das wusste er, obwohl der Fremde ziemlich in der Dunkelheit verborgen blieb.
Der Fremde bewegte sich nicht. Eine schweigende, düstere Gestalt, die ihre Hände tief in den Taschen des langen Mantels vergraben und das Gesicht in Tanners Richtung gedreht hatte.
Der Chief Inspector überwand seine Überraschung schnell. Er gehörte auch nicht zu den Menschen, die sich so leicht einschüchtern ließen. Wo er auftrat, beherrschte er die Szene. Da der andere nichts sagte, übernahm Tanner das Wort. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie zu mir wollen, Mister.«
»In der Tat.«
»Gut, jetzt bin ich hier. Und hätte gern von Ihnen erfahren, was Sie wollen.«
»Es ist wirklich nicht einfach zu sagen, Sir.« Er kam jetzt näher, ging allerdings mit kleinen Schritten.
Tanner hatte ein ungutes Gefühl. Allein das Auftreten des Fremden machte ihm klar, dass hinter ihm mehr steckte. Er musste eine gewisse Macht im Rücken haben, um so sicher aufzutreten. Von seinem Gesicht war nicht viel zu sehen. Es sah natürlich heller aus als der Mantel, doch auch in ihm zeigten sich Schatten, und die ummalten die Augen, als wäre er dort geschminkt, was sich Tanner nicht vorstellen konnte. Deshalb ging er davon aus, dass seine Augen tief in den Höhlen lagen und wie zwei dunkle Teiche wirkten.
»Ich möchte Sie warnen, Chief Inspector.«
Es blieb bei dem einen Satz, und Tanner ärgerte sich. Die Worte machten ihn wütend. Dieser Typ bildete sich verdammt viel ein.
»Ich habe Sie doch richtig verstanden – oder?«
»Ja, es war eine Warnung.«
»Aha. Und darf ich fragen, wovor Sie mich warnen wollen?«
»Deshalb bin ich hier.« Der Fremde blieb ruhig. »Ich möchte, dass Sie die Finger von dem Fall lassen. Ein Mann ist gestorben, das steht fest. Belassen Sie es dabei, Mr. Tanner. Es ist besser für Sie. Forschen Sie nicht weiter nach.«
Tanner war leicht geschockt. Er war mit Leib und Seele Polizist. Er hatte einen Teil seines Lebens damit zugebracht, Verbrecher zu jagen, und er hatte dafür einiges in Kauf genommen und auch einen Großteil seines Privatlebens geopfert. Und nun kam solch ein Typ wie vom Himmel gefallen und wollte ihn davon abhalten, seinen Job zu
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