12 - Die Nadel der Götter
US-Präsidenten im TV gesehen: Professor Dr. Smythe. Wegen seines schmalen Lächelns hatte Tom zuerst vermutet, der Kerl wolle neuerliche Keine-Panik-Parolen verbreiten. Doch dann sagte er mit fast schon gut gelaunt klingender Stimme: »Auch wenn sich niemand die Kurskorrekturen des Kometen erklären kann, haben sie doch vor einigen Stunden erneut eingesetzt. Wenn sie weiterhin in dieser Regelmäßigkeit stattfinden, wird ›Christopher-Floyd‹ zwischen dem sechsten und achten Februar einschlagen. Derzeit werden Vorbereitungen getroffen, ihn von der ISS aus zu beschießen, sobald er in Reichweite kommt.«
Seine Stimme strafte die Worte Lügen, denn sie klang, als würde er sich die wissenschaftliche Sensation eines Kometeneinschlags wünschen. Sonderbarer Vogel, dieser Professor!
Das Interview hatte sich in Windeseile überall auf dem Planeten verbreitet, YouTube sei Dank. In der Folge sahen sich jene Menschen bestätigt, die schon seit Wochen ohne Recht und Gesetz lebten. Und auch von den restlichen fiel ein Großteil vom Glauben ab. Plünderungen, Vergewaltigungen, Schlägereien und Morde nahmen sprunghaft zu. Glaubensgemeinschaften mit sektenhaftem Charakter, die man noch vor Tagen belächelt hatte, erfuhren einen ungeahnten Zulauf. In vielen großen Städten wie Berlin, Paris oder New York kam es zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen.
Aus diesem Grund hatte Tom auch beschlossen, McDevonshire zu Interpol zu begleiten. Er wollte nicht wieder im Hotel sitzen und darauf warten müssen, dass man ihn auf dem Laufenden hielt. Und da er auf keinen Fahndungslisten mehr stand, hoffte er, dass er dank der überall herrschenden Aufregung selbst dann unbehelligt blieb, wenn er sich in die Höhle des Löwen begab. Außerdem war ja der Ex-Commissioner an seiner Seite. Und, was ihn besonders freute, Maria Luisa!
»Ich habe noch einmal darüber nachgedacht«, hatte sie vor ihrem Aufbruch gesagt. »Ich werde bei dir bleiben, zumindest bis die Welt gerettet ist. Danach sehen wir weiter. Aber ich bin es Jandro schuldig, dich zu unterstützen.«
»Hast du Jandros Tod nicht für eine Strafe Gottes für das Verlassen des rechten Pfades gehalten?«
»Wer kann Gottes Willen schon wirklich kennen? Vielleicht unterzieht er mich einer Prüfung! Aber ich will nicht, dass mein Bruder umsonst gestorben ist. Der Mann in Weiß soll dafür bezahlen.«
Offenbar hatte sich ihr Glauben der alttestamentarischen Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Sichtweise zugewandt. Tom konnte es nur recht sein.
»Freut mich, dass Sie sich hergewagt haben«, sagte Audric Guignard. »Spencer hält große Stücke auf Sie!«
»Das wäre mir neu. Ich dachte, er ist immer noch sauer auf mich, weil ich an seiner Suspendierung schuld bin.«
»Das bin ich auch!« McDevonshire betrat das Büro mit einem Tablett voll dampfender Kaffeetassen. Sofort hing das Aroma des schwarzen Muntermachers in der Luft. »Aber das eine schließt das andere ja nicht aus. – Also, was gibt es Neues?«
Guignard zog einen Schnellhefter zu sich heran und schlug mit der flachen Hand darauf. »Das ist der Bericht von Michel Harlan, dem Führer des Trupps, den ich zum Bahnhof geschickt habe. Von diesem Pan Tau …«
»Pauahtun«, korrigierte McDevonshire.
»Von mir aus. Wie er auch heißt, von ihm fehlt jede Spur.«
Tom sog scharf den Atem ein. Am Tag zuvor hatte der Indio sie aufgespürt und versucht, sie zu töten. Dabei stürzte er über eine Brückenbrüstung auf den mit Autos beladenen Waggon eines Güterzugs.
»Michel hat einen verbeulten Jaguar auf dem Zug gefunden und sogar Blutspuren, aber dieser Indio war verschwunden.«
»Haben sie die Strecke zwischen der Brücke und dem Bahnhof abgesucht? Vielleicht ist er runtergefallen!«
»Haben sie, allerdings nicht sehr sorgfältig. Personalmangel.«
Tom atmete tief durch. »Wollen wir hoffen, dass wir nie wieder von ihm hören.«
»Und was ist mit den Indios von CERN?«, fragte Maria Luisa.
»Die sitzen in Genf in einer Zelle«, sagte Guignard.
»Wie geht es weiter mit ihnen?«
»Keine Ahnung. Niemand weiß, was dort unten eigentlich vor sich gegangen ist. Bei der Bergung der Maschine ist angeblich sogar ein Mann des Bombenräumkommandos verbrannt.« Guignard zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, die Indios bleiben erst mal weggesperrt.«
»Gibt es da keine Regeln, wie lange man sie festhalten kann?«
»Ich glaube, die haben keine Gültigkeit mehr. Die paar aufrechten Beamten, die weiterhin ihren Dienst versehen, sind völlig
Weitere Kostenlose Bücher