12 - Wer die Wahrheit sucht
still, aber als er das eiserne Tor erreichte und den einen Flügel aufzog, begannen in den Bombeersträuchern, im Schwarzdorn und im Efeu, der an der schmalen Straße wucherte und sich an der von Flechten überzogenen Steinmauer emporzog, die ersten Vögel zu zwitschern.
Es war kalt. Dezember. Was konnte man da anderes erwarten. So früh am Tag ging wenigstens noch kein Wind, wenn auch für später ein seltener Südostwind angesagt war, der das Schwimmen nach Mittag unmöglich machen würde. Aber es war ohnehin nicht zu erwarten, dass außer ihm jemand auf den Gedanken kam, im Dezember zu schwimmen. Das war einer der Vorteile, wenn man nicht kälteempfindlich war: Man hatte das Wasser für sich allein.
Und so war es Guy Brouard am liebsten. Denn beim Schwimmen ließ sich gut nachdenken, und er hatte meistens eine Menge nachzudenken.
Heute war das nicht anders. Mit der Grenzmauer des Besitzes zu seiner Rechten und den hohen Hecken des umgebenden Ackerlands zu seiner Linken, ging er durch das graue Morgenlicht die Straße entlang zur ersten scharfen Kurve auf dem Weg, der ihn den steilen Hügel hinunter zur Bucht führen würde. Er dachte darüber nach, was er in seinem Leben in den letzten Monaten angerichtet hatte, einiges bewusst und nach reiflicher Überlegung, anderes als Konsequenz von Ereignissen, die niemand hätte voraussehen können. Bei seinen engsten Weggefährten hatte er nicht nur Enttäuschung und Befremden hervorgerufen, sondern auch das Gefühl, betrogen worden zu sein. Und weil es seit langem seine Gewohnheit war, die Dinge, die ihm am meisten am Herzen lagen, für sich zu behalten, hatten sie nicht begreifen können, wie sie sich in ihren Erwartungen hinsichtlich seiner Person so gründlich hatten irren können. Nahezu ein Jahrzehnt lang hatte er sie ermuntert, in Guy Brouard den ewigen Wohltäter zu sehen, väterlich besorgt um ihre Zukunft und auf die großzügigste Weise bemüht, diese Zukunft zu sichern. Er hatte sie damit nicht irreführen wollen. Im Gegenteil, es war stets seine Absicht gewesen, jedem von ihnen seinen geheimen Traum zu erfüllen.
Aber nur so lange, bis er das erste Mal auf Ruths Gesicht die Grimasse des Schmerzes wahrgenommen hatte, die sie sich erlaubte, wenn sie dachte, er sähe es nicht, und bevor er begriffen hatte, was diese Grimasse bedeutete. Er hätte vermutlich nichts gemerkt, hätte sie nicht plötzlich angefangen, sich unter dem Vorwand, auf den Klippen wandern zu wollen, fortzustehlen. Am Icart Point mit seinen von Feldspatkristallen durchzogenen Gneisfelsen hole sie sich die Inspiration für eine künftige Petit-Point-Arbeit, behauptete sie. In Jerbourg, berichtete sie, bildeten die Schieferschichten im Stein Bänder in unterschiedlichem Grau, die es einem erlaubten, den Weg zu verfolgen, den Zeit und Natur bei der Ablagerung von Schlick und Sedimenten in dem uralten Gestein genommen hatten. Sie skizziere den Stechginster, sagte sie, und zeichne mit ihren Stiften Grasnelke und Lichtnelke in Rosa und Weiß. Sie sammle Margeriten, arrangiere sie auf der zerklüfteten Oberfläche eines Granitblocks und fertige Zeichnungen von ihnen an. Sie pflücke beim Wandern je nach Jahreszeit und persönlicher Neigung Glockenblumen, Ginster, Heidekraut, Stechginster, wilde Narzissen und Lilien. Aber irgendwie schafften es die Blumen nie bis nach Hause. »Sie haben zu lange im Auto gelegen, ich musste sie wegwerfen«, pflegte sie zu erklären. »Wilde Blumen halten nicht, wenn man sie pflückt.«
Monat um Monat war das so gegangen. Aber Ruth war keine Klippenwanderin. Sie war auch keine Blumensammlerin oder Geologiestudentin. Natürlich wurde Guy misstrauisch.
Anfangs glaubte er törichterweise, es gäbe endlich einen Mann im Leben seiner Schwester und es sei ihr peinlich, ihm das zu sagen. Dann aber sah er eines Tages ihren Wagen vor dem Princess-Elizabeth-Hospital stehen, und dieser Zufall, mit ihrem häufig schmerzverzerrten Gesicht und den langen Rückzügen in ihr Zimmer in Verbindung gebracht, zwang ihn, zur Kenntnis zu nehmen, was er nicht zur Kenntnis hatte nehmen wollen.
Seit der Nacht, als sie von Frankreichs Küste abgelegt hatten, um in einem Fischkutter unter Netzen versteckt die Flucht anzutreten, die viel zu lange hinausgezögert worden war, war sie in seinem Leben die einzige Konstante gewesen. Sie war sein Überlebensgrund gewesen, sein Ansporn, erwachsen zu werden, Pläne zu machen, erfolgreich zu sein.
Aber dies? Daran konnte er nichts ändern. Vor dem,
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