12 - Wer die Wahrheit sucht
ab, um seinen Augen ein paar Minuten lang ein klares Bild zu gönnen, und ließ seinen Blick gemächlich von den fernen baumbestandenen Hängen über raues, von Felsbrocken übersätes Gelände abwärts schweifen zum Strand, während er beim Wassertreten lautlos mitzählte.
Plötzlich stockte er.
Da war jemand. Dort am Strand, größtenteils im Schatten, stand eine Gestalt, die ihn beobachtete. Unverkennbar. Sie stand neben der Granitrampe, dunkel gekleidet mit einem Streifen Weiß am Hals, dem es vermutlich zu verdanken war, dass er überhaupt aufmerksam geworden war. Während Guy blinzelnd versuchte, die Gestalt schärfer in den Blick zu bekommen, trat diese von der Rampe fort und ging weiter den Strand entlang.
Ihr Ziel war klar. Sie ging zu seinen abgelegten Kleidern und kniete neben ihnen nieder, um etwas hochzuheben, die Jacke oder die Hose - das war auf diese Entfernung schwer zu erkennen.
Doch Guy konnte sich denken, worauf die Person es abgesehen hatte, und er fluchte. Er hätte seine Taschen durchsehen sollen, bevor er das Haus verlassen hatte. Ein gewöhnlicher Dieb hätte sich natürlich nicht für den kleinen durchbohrten Stein interessiert, den Guy Brouard in der Tasche trug. Aber ein gewöhnlicher Dieb hätte auch nie damit gerechnet, so früh an einem kalten Dezembermorgen die unbewachten Kleider eines Schwimmers am Strand vorzufinden. Wer immer die Person war - sie wusste, wer da draußen in der Bucht schwamm. Und sie suchte entweder den Stein oder kramte in Guys Kleidung, weil sie hoffte, ihn damit an Land zurückzulocken.
Verdammt noch mal, dachte er. Diese Zeit gehörte ihm allein. Er dachte nicht daran, sie mit irgendjemandem zu teilen. Wichtig war ihm jetzt nur seine Schwester und wie sie sterben würde.
Er begann, wieder zu schwimmen, durchquerte zweimal die Bucht und sah, als er schließlich erneut zum Strand blickte, mit Befriedigung, dass die Person, die ihn in seinem Alleinsein und seinem Frieden gestört hatte, verschwunden war.
Er schwamm ans Ufer und erreichte es außer Atem, nachdem er beinahe das Doppelte der Strecke zurückgelegt hatte, die er sonst morgens schwamm. Taumelnd und schlotternd vor Kälte rannte er aus dem Wasser zu seinem Handtuch.
Der Tee versprach rasche Abhilfe gegen die Kälte, und er goss sich aus der Thermosflasche einen Becher ein. Er war stark und bitter und vor allem heiß, und Guy trank den Becher leer, bevor er seine Badehose auszog und sich ein zweites Mal einschenkte. Jetzt trank er langsamer, trocknete sich dabei ab und rubbelte kräftig, um wieder warm zu werden. Er schlüpfte in seine Hose und ergriff seine Jacke, warf sie sich um die Schultern und setzte sich auf einen Felsen, um seine Füße zu trocknen. Erst nachdem er seine Laufschuhe angezogen hatte, schob er die Hand in die Tasche. Der Stein war noch da.
Er ließ sich das durch den Kopf gehen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er vom Wasser aus gesehen hatte. Er reckte den Hals und suchte mit den Augen den Hang ab. Nirgends rührte sich etwas.
Er fragte sich, ob das, was er am Strand zu sehen geglaubt hatte, eine Täuschung gewesen war. Vielleicht war es gar kein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, sondern eine Ausgeburt seines Gewissens. Fleischgewordene Schuld, zum Beispiel.
Er zog den Stein heraus. Noch einmal packte er ihn aus und strich mit dem Daumen über die eingeritzten Initialen. Jeder braucht Schutz, dachte er. Die Schwierigkeit war, zu wissen, vor wem oder was.
Er spülte den Rest des Tees hinunter und goss sich noch einen Becher ein. In weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgegangen sein. Er beschloss, diesen Moment heute Morgen abzuwarten.
LONDON
Dezember, 23 Uhr 15
1
Ein Glück, dass man über das Wetter reden konnte. Eine Woche Regen, der kaum einmal länger als eine Stunde ausgesetzt hatte, war schon bemerkenswert, selbst für das, was man vom Dezember gewöhnt war. Und die Tatsache, dass große Teile von Somerset, Dorset, East Anglia, Kent und Norfolk überschwemmt waren - ganz zu schweigen von den Städten York, Shrewsbury und Ipswich, die zu drei Vierteln unter Wasser standen -, verbot praktisch nachträgliche Diskussionen über die Vernissage einer Ausstellung von Schwarz-Weiß-Fotografien in einer Galerie in Soho. Man konnte sich doch nicht über die paar Freunde und Verwandte auslassen, die das spärliche Eröffnungspublikum ausgemacht hatten, wenn außerhalb Londons Menschen Haus und Hof verloren, Tausende von Tieren in Sicherheit gebracht werden
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