12 - Wer die Wahrheit sucht
woran seine Schwester jetzt litt, konnte kein Fischkutter in der Nacht sie retten.
Wenn er die anderen enttäuscht, befremdet und betrogen hatte, so war das nichts im Licht des drohenden Verlusts von Ruth.
Das morgendliche Schwimmen brachte ihm Erleichterung von den überwältigenden Ängsten, die diese Überlegungen auslösten. Er wusste, ohne das tägliche Bad in der Bucht würden die Gedanken an seine Schwester ihn aufzehren, ganz zu schweigen von dem Hadern mit seiner Ohnmacht, an ihrem Schicksal etwas zu ändern.
Die Straße, auf der er sich befand, war steil und schmal, die Ostküste der Insel war dicht bewaldet. Dank dem seltenen Auftreten rauer Winde aus Frankreich gediehen hier Bäume in üppiger Vielfalt. Das Geäst von Platanen und Kastanien, Eschen und Buchen bildete über Guy ein filigranes Gewölbe, das sich als graue Silhouette vom dunklen Zinn des noch beinahe nächtlichen Himmels abhob. Die Bäume standen auf schroffen, mit steinernen Mauern befestigten Hängen, zu deren Füßen das Wasser aus einer weiter landeinwärts gelegenen Quelle floss und auf seinem raschen Lauf zum Meer die Felsen umspülte.
Die Straße führte in Serpentinen abwärts, vorbei an einer schattigen Wassermühle und einem Hotel im Stil eines Schweizer Chalets, das fehl am Platz wirkte und über den Winter geschlossen war. Sie endete an einem kleinen Parkplatz mit einer Imbissbude, die verriegelt und mit Brettern gesichert war, und einer glitschigen Granitrampe, die früher Pferdefuhrwerken Zugang zum vraic geboten hatte, einer für die Kanalinseln typischen Tangart, die den Bauern als Dünger diente.
Die Luft war still, die Möwen hatten sich noch nicht von ihren Ruheplätzen auf den Felsen erhoben. Das Wasser in der Bucht war ruhig, ein aschefarbener Spiegel, der die Farbe des heller werdenden Himmels reflektierte. Es gab keine Wellen an diesem geschützten Ort, nur den sanften Schlag von Wasser auf Kiesel, eine sachte Berührung, die im Tang die kontrastierenden Gerüche erwachenden Lebens und lautlosen Verfalls freizusetzen schien.
Bei dem Rettungsring, der von einem vor langer Zeit in den Fels getriebenen Haken herabhing, legte Guy sein Handtuch ab und stellte die Thermoskanne auf einen Stein mit glatter Oberfläche. Er zog seine Schuhe und die Hose seines Trainingsanzugs aus und griff in die Jackentasche nach der Schwimmbrille.
Seine Finger berührten jedoch nicht nur die Brille, sondern daneben ein kleines, in Stoff eingeschlagenes Objekt, das er herauszog und verwundert in der offenen Hand hielt. Nur sehr selten hatte er außer der Schwimmbrille etwas in seiner Jacke.
Der Gegenstand war in weißes Leinen eingehüllt. Als er den Stoff neugierig auseinander schlug, fand er einen kreisrunden Stein, der in der Mitte ein Loch hatte und ein Rad darstellen sollte: énne rouelle de faitot. Ein Elfenrad.
Guy lächelte. Die Insel war ein Ort, an dem alter Volksglaube sich auch heute noch hielt. Man spottete vielleicht über die Idee, zum Schutz vor Hexen und ihresgleichen einen Talisman zu tragen, im Stillen jedoch verwarf man sie nicht so leicht. Du solltest immer so einen bei dir tragen, Guy. Jeder braucht Schutz.
Aber der Stein - ob Elfenrad oder nicht - hatte nicht die Kraft besessen, ihn so zu schützen, wie er sich geschützt geglaubt hatte. Das Unerwartete trat in jedermanns Leben, also hätte er sich eigentlich nicht wundern dürfen, als es auch in seines getreten war.
Er hüllte den Stein wieder in das Leinen und schob ihn in die Tasche, legte Jacke und Wollmütze ab und setzte die Schwimmbrille auf, ging über den schmalen Strand und watete ohne Zögern ins Wasser.
Es traf ihn wie ein Schock. Nicht einmal im Hochsommer war das Wasser im Ärmelkanal warm. An diesem düsteren Wintermorgen war es eiskalt und bedrohlich.
Aber daran dachte er nicht, als er resolut weiter hineinwatete und, sobald er ausreichend Tiefe hatte, sich vom Grund abstieß und zu schwimmen begann. Er mied die Tangzonen und bewegte sich schnell durch das Wasser.
So schwamm er hundert Meter weit hinaus bis zu dem Granitfelsen, der, wie eine Kröte geformt, die Stelle kennzeichnete, wo die Bucht mit dem Ärmelkanal zusammentraf. Hier machte er Halt, direkt am Auge der Kröte, einem Guanoklumpen, der sich in einer seichten Mulde im Stein angesammelt hatte. Er wandte sich dem Strand zu und begann, Wasser zu treten, die beste Methode, die er kannte, um sich für die kommende Skisaison in Österreich fit zu halten. Wie immer nahm er seine Brille
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