128 - Der Schläfer
Zopf. »Es mag das Blut meiner Mutter gewesen sein, das mich in die Welt hinaus trieb. Ich konnte nicht mehr atmen, ich erstickte in diesen endlosen Katakomben mit ihrem kalten Licht aus langen Röhren, dem ewig gleichförmigen Wummern der Aggregate, der sterilen Luft…«
»Ich kenne deine Lebensgeschichte, und ich kenne deine Motivationen«, unterbrach ihn Eve forsch. Sie zeigte überhaupt keinen Respekt, obwohl sie Rulfan nominell unterstellt war.
»Doch du vergisst, dass es den Männern deines Kommandos in dieser scheinbar grenzenlosen Welt ebenso geht – wenn auch umgekehrt. Sie sind schlicht und einfach überfordert. Die Weiten, der endlose Horizont, die gewaltigen Distanzen – dies alles muss erst einmal geistig bewältigt werden.« Sie runzelte erneut die Stirn. »Offen gesagt zweifle ich, dass unsere Generation es jemals schaffen wird, mit all diesen Veränderungen zurecht zu kommen. Erst unsere Kinder werden dem Ratschlag der Bibel folgen können und sich die Erde erneut Untertan machen.«
»Wenn uns die Daa’muren die Zeit dazu lassen«, erwiderte Rulfan leise.
»So ist es«, sagte Eve. »Und wenn unser Anführer ein wenig mehr Führungsstärke zeigt. Nicht du bist es, der sich auf unsicherem Terrain bewegt. Nicht du brauchst die anderen. Deine Männer brauchen dich.« Erneut blies sie Rauch aus und zerdrückte schließlich den Stummel unter einem Stiefel. Ruhig sprach sie weiter: »Hilf den Schwächeren. Hilf uns. Und stell dich gefälligst deiner Verantwortung.«
Die Sonne schien durch das Blätterdach und leuchtete Eves sommersprossiges Gesicht aus.
Seltsam, dachte er, noch bevor ihre Haare zu wachsen begannen, haben die Sommersprossen ihr vorher so blasses Gesicht neu gezeichnet. Diese merkwürdigen Pigmentstörungen haben sie auf eine eigenartige Weise…
interessant gemacht.
»Du hast ja Recht«, brummelte Rulfan. »Es war verantwortungslos von mir. Aber alte Gewohnheiten legt man nun mal nicht so schnell ab.« Und, noch bevor Eve erneut etwas einwenden konnte, fügte er hinzu: »Ich verspreche Besserung.«
Sie blickte ihn an, rätselhaft und mit jener unmäßigen Ruhe, die er an der Frau so schätzte, drehte sich wortlos um und ging voran.
Rulfan packte eilig seine Siebensachen zusammen. Dann folgte er ihr.
***
Der Trupp wartete auf sie. Acht Frauen und Männer, leicht bewaffnet, nervös in alle Richtungen sichernd. Die Standardbesatzung eines EWAT. Etwas abseits wartete ihr Fahrzeug. Zwanzig Meter lang, mit ausgefahrenem Geschützstand. Der Stachelturm ragte nahezu einen Meter aus der Decke des zweiten Fahrzeugsegments. Ein Dutzend Waffenrohre war auf die Umgebung gerichtet. Ein flug- und tauchfähiger Kampftank neuester Produktion Rulfan grüßte knapp in Richtung des Trupps. Er sah Erleichterung in den Gesichtern der Community-Soldaten.
Wie lange war er verschwunden gewesen? Rulfan blickte auf die Uhr. Es war vier Uhr nachmittags, also waren mehr als zwei Stunden vergangen, seitdem er sich in die Büsche geschlagen hatte.
Eve hatte wohl Recht. Er konnte nicht einfach wie ein einsamer Kämpfer abtauchen und auf die Eigenverantwortlichkeit seiner Leute zählen. Dies war in Coellen, bei Honnes und seinen wilden Brigaden möglich gewesen. Bei Menschen, die in diese postapokalyptische Welt hinein geboren worden waren. Aber nicht bei Männern und Frauen der Communities, die selbst so einfache Dinge wie natürliche Farben nach Jahrhunderten in steriler, monochromer Isolation misstrauisch beäugten.
Rulfan sah sich sorgsam um, suchte die Sträucher und Büsche mit prüfenden Augen ab. Um fünf Uhr sollten Paazival und sein Clan hier auftauchen.
»Werden sie denn kommen?«, fragte Eve, die seine Gedanken zu erraten schien. Sie hielt wieder einen jener unvermeidlichen Glimmstängel in der Hand, die sie Wudan-weiß-wo ausgegraben hatte.
»Ja«, antwortete der Albino bestimmt. »Sie stehen zu ihrem Wort. Für dich und deine Leute mögen sie Abschaum sein, Barbaren und Analphabeten. Doch es ist ihr Blut, auf das es in den nächsten Jahren ankommen wird. Ein kleiner Funke, eine Initialzündung mag genügen, und sie lassen all das hinter sich, was sie verabscheuenswert erscheinen lässt. Ihr könnt ihnen den Weg in die Zukunft zeigen. Sie leiten, ihnen die notwendigen Werkzeuge in die Hand geben und hoffen, dass sie das Beste daraus machen.«
Sie hielt seinem Gefühlsausbruch ohne Probleme stand und sah ihn nachdenklich an. Große Emotionen waren ihr fremd.
»Du redest von ›ihnen‹ und
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