134 - Geister im Grand Hotel
Einfluß auf meine Situation nahm.
Dieser Patient - nennen wir ihn André - litt seit frühester Kindheit an
Depressionen, war aufmüpfig, unberechenbar und ein richtiger kleiner Quälgeist,
wie Eltern solche Kinder zu bezeichnen pflegen.
Er stiftete Unruhe, war laut und konnte sich
nirgends einfügen.
Er lief von zu Hause fort, streifte tage- und
nächtelang durch die Landschaft, und niemand wußte, wo er sich aufhielt. Seine
Eltern ängstigten sich verständlicherweise, denn diese „Reisetätigkeit“ André begann mit dem neunten Lebensjahr.
Einmal entdeckte ihn ein Bauer in seinem
Schuppen. André schlief dort im Heu. Ein andermal
tauchte er vierhundert Kilometer von zu Hause entfernt in einem abbruchreifen
Gebäude im Herzen von Paris auf.
Als er siebzehn war, rückte er ganz von zu
Hause aus. In der Zwischenzeit, das muß ich unbedingt erwähnen, war er schon
einige Male zu längeren Aufenthalten in Sanatorien, wo man ihn von seiner unseligen
Ruhelosigkeit zu heilen versuchte. Nach der Entlassung ging es jeweils einige
Wochen oder Monate gut, dann setzte die Ruhelosigkeit erneut ein.
Im siebzehnten Lebensjahr, wie gesagt, trieb
es ihn nach Marseille. Dort versteckte er sich in einem Bananenfrachter und
reiste als blinder Passagier. Er lebte einige Monate auf dem Schiff, ohne
entdeckt zu werden, und labte sich an den Essensresten der Mannschaft und
manchmal auch an den halbrohen Bananen, die er aus dem Laderaum holte, wenn der
Hunger in seinen Eingeweiden nagte.
Ich brauchte allein einen ganzen Abend, um
ihnen alle Reisen zu schildern, die André im Lauf von
mehr als vierzig Jahren unternahm. Über jede „Reise“ könnte ich Ihnen
Einzelheiten berichten. Aber darauf kommt es nicht an. Was ich möchte ist,
Ihnen einen Eindruck zu geben von der Getriebenheit und dem Unglück eines
Menschen, der nirgends Fuß fassen konnte. André war in Süd- und Mittelamerika, er lebte in
Casablanca und Hongkong, in Hamburg und Kalkutta, er hat Tahiti und tausend
andere noch kleinere Inseln gesehen. Ein solcher Mensch muß krank sein, und als
Verrückter wurde er auch behandelt.
Ich suchte nach dem Grund seines „Irrsinns“.
In der frühesten Kindheit mußte der
auslösende Faktor liegen.
Ich kam darauf durch die Schrift eines Mannes,
den ich eigentlich nie ernst genommen hatte. Er sprach in seinem Text von „
Karma „ und Reinkarnation. Wir machen verschiedene Leben durch. In östlichen
Religionen stoßen wir überall auf dieses Wissen, nach unserem westlichen
Verständnis ist jeder Mensch einmalig und nur einmal existent. Doch hier ist
gerade in den letzten Jahren durch die Forschung manches in anderes Licht
gerückt worden.
Als Beispiel noch mal den Fall „An dré “. Nicht in diesem Leben lag der
Schlüssel zu einem krankhaften Verhalten, sondern in einem Leben davor.
Noch während wir uns über die früheste
Kindheit von „ André „ unterhielten, teilte er mir mit
sich plötzlich veränderter Stimme mit, daß er einen anderen Namen hätte.
„Wie nennt man dich den?“ wollte ich wissen.
„Francis!“ antwortete er mir.
„Wie kommst du gerade auf diesen Namen? „
„Ich heiße so... Jeder ruft mich so . . .“
„Aber du heißt doch André .. .“
„André? Unsinn. Wie kommst du darauf? „
»Vielleicht täusche ich mich auch .. .“
„Ganz sicher sogar. Du verwechselst mich mit jemand .. .“
„Erzähl mir ein wenig von dir, André .. . “«
Seventus führte das Rollenspiel seinen
aufmerksam lauschenden Zuhörern genau vor, so daß diese einen Einblick in jene
Stunde erhielten, die das Leben des Psychologen und Psychiaters seinerzeit tiefgreifend
veränderte.
Damals hieß Seventus noch Dr. Gaston Maison. Diese Tatsache war allerdings nur den
anwesenden PSA-Agenten bekannt. In dem Rollenspiel gab er sich den einfach
klingenden und auszusprechenden Namen »Henri«. Und als »Henri« ließ er sich von
» André-Francis« ansprechen.
»„Nicht schon wieder André! “ Seventus schüttelte den Kopf, hielt die
Augen halb geschlossen, als er den Dialog mit sich selbst führte. _“ Laß
endlich diesen Namen weg. Ich will ihn nicht mehr hören. Sag mir, wie du heißt .. .“
„Ich bin Henri. Ich bin dein Freund, Francis.
Du kannst mir voll vertrauen . . .“
„Das ist fein, Henri. Ich suche einen Freund.
Einen, der bereit ist, mir zu helfen. Ich muß weg hier, sonst krepier’ ich! „
„Was kann ich für dich tun?“
„Du könntest die Wachen ablenken .. .“
„Was für Wachen,
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