1342 - Die Totmacher
stärker. Haben sie zumindest in den Wetterberichten gesagt. Der zieht von Süden her nach Norden.«
»Hast du noch mehr über ihn gehört?«
»Wieso?«
»Über den Weg.«
Karen Blaine lächelte. »Ja, aber darum brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Mehr die Menschen im Großraum London. Dort ist der Nebel so dicht geworden, dass man nicht die Hand vor Augen sehen kann.«
Wendy überlegte und fragte dann: »Was ist denn mit den Flugzeugen? Können sie überhaupt landen?«
»Nein, das können sie nicht. Das ist unmöglich. Die Maschinen müssen dann eben ausweichen.«
»Das ist auch blöde – oder?«
»Ist es.« Karen Blaine schaute auf ihre Uhr. »So, Kind, für mich wird es Zeit. Ich muss mich beeilen. Zum Glück kann Pa vom Zug in den Bus umsteigen und bis Ratley fahren. Das ist immer sicherer als mit dem Auto loszugondeln.«
»Was hat er denn in London gemacht?«
Karen winkte ab. »Irgendeine Gerichtssache, die wir beide wohl nicht verstehen. Du weißt ja, dass Pa Anwalt ist und zahlreiche Klienten hat. Manchmal muss er auch nach London.«
»Das möchte ich auch mal werden.«
»Dann streng dich an.«
Karen drückte ihrer Tochter zum Abschied noch einen Kuss auf die Stirn und zog sich zurück. Sie konnte Wendy verstehen. Auch sie war als Kind etwas ängstlich und zugleich nachdenklich gewesen. Auch hatte sie nichts gegen Halloween. Man kam einfach nicht daran vorbei, selbst als Erwachsener nicht. Aber sie dachte auch daran, dass die Menschen es in den letzten Jahren übertrieben hatten und mit ihren Verkleidungen immer verrückter wurden. Das musste nicht sein.
Kinder und sogar Erwachsene erschreckten sich auch, wenn man sich nur schaurig anmalte. Und wer sich eine Axt in den Kopf steckte, der war nicht mehr ganz normal unter der Schädeldecke. Fand sie jedenfalls.
Der Honda stand vor dem Haus. Karen hatte sich noch die wollene Jacke übergestreift, die Einkaufstasche mitgenommen und setzte sich hinter das Lenkrad.
Die Blaines wohnten am Ortsrand von Ratley. Recht einsam und in einer trotzdem überschaubaren Umgebung.
Als sie startete, spürte sie den Druck in der Brust. Plötzlich gefiel es ihr nicht mehr, Wendy allein zu Hause zu lassen. Der Typ mit der Axt im Kopf hatte auch bei ihr einen leichten Schauder hinterlassen.
Doch es war Halloween. Da musste man großzügig sein und die Dinge eben anders sehen…
***
Auf einmal wurde es still im Haus!
Wendy war allein zurückgeblieben. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen und sie konnte in den Flur hineinschauen, der nicht eben in einem hellen Licht lag. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Stille von dort in ihr Zimmer hineindrängte und sich in diesem Dämmerschein aus grauem Licht seltsame Gestalten bildeten.
Das Mädchen stand vor der offenen Tür. Es hatte seinen Mund verzogen. Es wünschte sich in diesem Fall riesige Ohren, um jedes Geräusch sofort wahrnehmen zu können.
Da war nichts.
Nicht einmal ein Knacken der alten Holzdielen, die ihr Vater vor zwei Wochen noch frisch gestrichen hatte.
Allmählich gewöhnte sich Wendy an die Stille. Und sie war sogar froh darüber, denn irgendwelche geheimnisvollen Geräusche hätten sie nur erschreckt.
Im Haus bleiben oder nach draußen gehen?
Eine Entscheidung fällte Wendy nicht. Sie musste erst noch nachdenken. Im Haus kam sie sich wie eine Gefangene vor. Draußen an der frischen Luft würde es anders sein, aber sie dachte auch an den Mann mit der Axt im Kopf. Bisher hatte sie ihn nur aus einer sicheren Entfernung gesehen. In seine Nähe kommen wollte sie nicht.
Er war nicht mehr da. Von ihrem Fenster aus schaute sie in den Garten hinein. Da gab es die große Wiese, auf der einige Obstbäume wuchsen. Kirschen, Äpfel und Birnen. Das alles musste sie vergessen. Erst im nächsten Jahr würden die Bäume wieder Früchte tragen. Jetzt war der Wind dabei, mit den gefärbten Blättern zu spielen, die keine Chance hatten, an den Ästen und Zweigen hängen zu bleiben. Die meisten von ihnen lagen bereits am Boden, um den bereits winterlich braun gewordenen Rasen unter sichzubegraben.
Das große Sterben hatte in der Natur begonnen und wenn sie an das Wort sterben dachte, bekam sie eine Gänsehaut.
Bis zum Bach konnte sie sehen. Daran hinderte sie auch nicht der leichte Dunst, der sich über den Rasen gelegt hatte, als hätte eine geheimnisvolle Fee durchsichtige Tücher gewebt, um der Natur einen Schutz vor der kommenden Kälte zu geben.
November – eine besondere Stimmung…
Wendy
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