1351 - Templergold
Gestalt das Haus noch nicht betreten hatte und sich Lilian nicht in unmittelbarer Gefahr befand, spürte sie die kalte und irgendwie klebrige Angst, die sich in ihrem Inneren ausbreitete und hoch bis zum Herzen kroch.
Das Skelett schien trotz seiner leeren Augenhöhlen sehen zu können, denn es ließ von seinem Ziel nicht ab. Es ging auf dem direkten Weg zum Schlafzimmerfenster, als wüsste es genau, wer sich dahinter verbarg und alles beobachtete.
Aber es ging nicht schnell. Es ließ sich Zeit.
Bisher hatte sich Lilian Dexter nicht vom Fleck bewegt und nur nach vorn geschaut. Das konnte sie nicht mehr riskieren. Wenn der Knöcherne noch näher kam, würde er sie entdecken.
Und so tat sie das einzig Richtige in ihrer Lage. Sie tauchte ab und blieb in der Hocke, wobei sie sich noch gegen die graubleiche Wand presste.
Jetzt sah sie das Skelett nicht mehr, aber auch sie wurde nicht gesehen. Sie hörte zudem nichts, abgesehen vom Schnarchen aus dem Nebenraum.
Lilian zählte die Sekunden.
Bis zur Zahl 12 kam sie, dann hörte sie auf und wartete darauf, dass etwas passierte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass nichts eintrat. Der Knöcherne war nicht ohne Grund auf das Haus zugekommen. Da musste schon mehr dahinter stecken. Er wollte Menschen. Er wollte Fleisch und…
Stopp, stopp!
Nicht mehr daran denken. Wenn sie diese Gedanken weiterhin verfolgte, würde sie noch durchdrehen. Aber sie war realistisch genug, um zu wissen, dass Orry und sie das Skelett provoziert hatten. Ohne ihrer beider Eingreifen wäre es sicherlich nicht erschienen.
Während sie weiterhin in der Hocke blieb und merkte, dass sich ihre Muskeln verkrampften, fielen ihr plötzlich alte Geschichten über Schätze und Schatzsucher ein, die sie früher mal gelesen hatte.
Da hatte es schon geheimnisvolle Schätze gegeben, doch die waren nie ohne Bewachung zurückgelassen worden. Ja, so musste es auch hier sein. Das Skelett, das lebte, war ein Hüter oder die Wache des Schatzes, von dem sie etwas gestohlen hatten, und sie mussten jetzt die Konsequenzen tragen, was grauenhaft enden konnte. Zumindest war das oft in den alten Geschichten der Fall gewesen.
Sie konnte den Atem nicht mehr anhalten. Er musste raus, und sie hörte sich aufstöhnen.
War es noch da? Hatte es vielleicht aufgegeben, weil im Zimmer kein Licht brannte?
Doch, es gab Licht. Der schwache Schein, der vom Wohnraum aus durch die offene Tür fiel. Sollte das Skelett tatsächlich sehen können, würde ihm dieser Schein nicht verborgen bleiben.
Lilian traute sich nicht, ihren Körper hoch zu drücken, weil sie nicht wusste, ob das Skelett verschwunden war oder nicht.
Tock-tock…
Hart und fordernd. Sie konnte sich vorstellen, dass der von außen gegen die Scheibe klopfte, und verkrampfte sich vor Furcht. Sie wollte es nicht tun, sie wollte nicht schreien, sondern nur still hier hocken bleiben.
Das war ihr nicht möglich.
Lilian musste sich Luft verschaffen, und aus ihrem Mund drang plötzlich ein tiefes Seufzen. Dann wurde ihr klar, was sie da getan hatte, und sie schlug die Handfläche gegen den Mund.
Es wurde wieder still.
Innen und außen, denn weitere Klopfgeräusche vernahm sie nicht.
Auch jetzt traute Lilian sich nicht, aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Sie ging auf Nummer sicher. Erst als mehr als drei Minuten vergangen waren, drückte sie sich wieder hoch.
War er noch da? War er nicht da?
Es entschied sich in diesen Augenblicken, denn Lilian war sicher, dass sich sein hässlicher Schädel hinter der Scheibe abmalen würde.
Nein, nicht!
Es war alles wieder normal geworden. Sie wollte es kaum glauben und schrie sogar leise auf. Es war ein Schrei der Erleichterung. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Wohin würde das Skelett gehen?
Natürlich dachte Lilian nicht mehr daran, sich ins Bett zu legen.
Diese Nacht würde endlos dauern, zumindest für sie, denn ihr Freund schlief ja. Der war auch so leicht nicht wach zu bekommen.
Was tun? Nur abwarten und darauf hoffen, dass die Gefahr verschwand? Ihr fiel nichts anderes dazu ein. Denn an eine Flucht dachte sie nicht. So etwas konnte sie nicht riskieren, weil sie auch davon ausgehen konnte, dass sich ihr Feind in der Nähe aufhielt und das Haus unter seiner Kontrolle behielt.
Bleiben. Hoffen. Abwarten. Aber sich nicht ins Bett legen. Schlaf würde sie nicht finden, und trinken, um alles zu vergessen, kam auch nicht in Frage.
So wartete sie die nächsten beiden Minuten noch ab, die ihr sehr lang vorkamen.
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