143 - Das Böse wohnt in Harkerville
er flehend und hielt mit zitternder Hand das leere Glas entgegen.
Ich hoffte, damit eine Vertrauensbasis schaffen zu können, goß noch einmal ein.
»Aber nun möchte ich etwas hören«, sagte ich streng.
»Sind Sie der Besitzer dieses Schlosses, Mr. Ballard?« fragte der Landstreicher. Verschwindend klein hockte er in einem großen Ohrensessel. Eine traurige Erscheinung, ein Außenseiter. Ich fragte mich, was ihn dazu gemacht hatte.
»Nein, das Schloß gehört mir nicht«, antwortete ich. »Niemandem von uns gehört es. Aber wir haben die Erlaubnis des Besitzers, hier zu wohnen.«
»Ich… ich habe nur die Nacht hier verbracht«, beteuerte mir Jagger. »Sonst nichts. Und meine nassen Kleider habe ich getrocknet. Es hat letzte Nacht nämlich wie aus Eimern geschüttet. Ich froh, daß ich hier Zuflucht finden konnte. Wie ein Toter habe ich geschlafen. Kein Wunder nach dieser übermenschlichen Anstrengung. Ich erwachte erst, als ich das Knattern des Hubschraubers hörte. Ich habe mich versteckt, und vorhin wollte ich heimlich verschwinden.«
»Dein Pech, daß ich am Fenster stand und dich davonschleichen sah«, sagte Bruce O’Hara.
Jagger sah ihn offen an. »Sie hielten mich für einen Dieb, nicht wahr?«
»Vielleicht tue ich das immer noch«, gab der weiße Wolf zurück.
»Sie können mich durchsuchen. Ich habe nichts mitgenommen. Ich bin kein Dieb.«
Ich wollte wissen, wie er in das Schloß gelangt war. Er sagte es mir, ohne lange darum herumzureden.
»Warum mußten wir nach Harkerville kommen?« fragte der Landstreicher unglücklich. »Warum nahmen wir nicht ernst, was wir über dieses Dorf hörten?«
Ich hob interessiert die Augenbrauen. »Was ist euch denn zu Ohren gekommen? Und was heißt ›wir‹?«
»Ich war mit einem Freund unterwegs: Dean Courtway…der beste Freund, den ich je hatte.«
»Hat er sich auch im Schloß versteckt?«
Jagger schüttelte langsam den Kopf. »Dean ist tot, Mr. Ballard.«
»Was ist los mit Harkerville?« fragte ich.
»Das Dorf ist verflucht. Das Böse wohnt in Harkerville.«
»Und ihr seid ihm begegnet«, sagte ich.
»Ja, in diesem Schreckenshaus«, stöhnte Tom Jagger. »Mein Freund wollte es nicht betreten, aber ich überredete ihn dazu. Wenn er doch bloß dieses eine Mal seinen Willen durchgesetzt hätte, dann wäre er jetzt noch am Leben… Haben Sie noch nie von den Blutnächten von Harkerville gehört, Mr. Ballard?«
»Nein«, antwortete ich.
»Ich hielt es für ein dummes Greuelmärchen. Aber nun weiß ich, daß all die schrecklichen Geschichten, die sich um dieses Dorf ranken, wahr sind. Ich sah es mit eigenen Augen…«
»Was?« fragte ich, als der Landstreicher nicht weitersprach.
Er verlangte neuen »Treibstoff«, hielt mir das leere Glas wieder hin. Er bekam von mir seinen dritten Whisky. Dann stellte ich die Flasche weit weg.
Der Landstreicher erzählte uns von Gerry Blackburn, dem Wirt.
»Er gab uns zu essen und zu trinken. Nur wohnen ließ er uns nicht bei sich. Wir sagten, wir würden nach Norden weiterziehen, und er warnte uns vor diesem einsamen, verfluchten Haus. Unter keinen Umständen sollten wir unseren Fuß da hineinsetzen. Später erfuhren wir, daß er mit dieser Warnung unsere Neugier zu wecken hoffte. Ich fiel darauf herein. Der Regen trieb uns in das Haus. Wir wollten nicht naß bis auf die Haut werden. Dean sagte gleich, es wäre ein Spukhaus, in dem es nicht mit rechten Dingen zugehen würde, aber ich kaufte ihm das nicht ab. Aber dann… Dean sah den Wirt. Blackburn starrte zum Fenster herein. Er erschreckte meinen Freund zu Tode. Wir beobachteten Gerry Blackburn dann… Der Mann… Sie werden es mir nicht glauben, Mr. Ballard, aber es ist die Wahrheit, ich lüge nicht… Der Wirt verwandelte sich vor unseren Augen in ein schreckliches Monster. Er… er wurde zum Werwolf!«
***
Ich wechselte mit Bruce O’Hara einen raschen Blick.
»Na, das ist ja eine höchst unerfreuliche Überraschung«, bemerkte Mr. Silver. »Ein Werwolf in Harkerville!«
»Nicht nur einer!« keuchte Jagger.
Ich drängte ihn, uns die ganze Geschichte zu erzählen. So erfuhren wir vom Wolfskreuz und daß es außer dem Wirt vier weitere Werwölfe gab. Vielleicht waren es auch noch mehr. Heiser berichtete Tom Jagger, was für ein schreckliches Ende sein Freund am Wolfskreuz gefunden hatte.
Ihm war es gelungen zu fliehen. Die Wölfe verfolgten ihn zwar, aber sie fanden ihn nicht. Ich konnte ihm nachfühlen, wie groß seine Angst war, als er immer wieder das
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